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1938 | Reichspogromnacht
9. November 1938
In Deutschland brennen Synagogen
Schon vor zwei Tagen haben als Zivilisten verkleidete SS- und SA-Männer in Kassel und anderen hessischen Städten Synagogen verwüstet. Jetzt richtet sich der organisierte "Volkszorn" gegen jüdische Einrichtungen im ganzen Land. Hunderte Menschen werden umgebracht. Überall brennen Synagogen.
Als Vorwand für die Novemberpogrome dient den Nazis das Attentat auf einen NS-Diplomaten in Paris. Hinter dem Angriff auf jüdische Kultstätten und die Geschäfte jüdischer Bürger verbirgt sich ein beispielloser Raubzug. Der deutsche Staat und habgierige Bürgerinnen und Bürger bereichern sich am Vermögen ihrer Nachbarinnen und Nachbarn. Die Nazis verklären ihren Beutezug zur "Reichskristallnacht".
Der 9. November erinnert die Deutschen in jedem Jahr an Wendemarken ihrer Geschichte. Der Fall der unseligen Mauer, die Deutschland teilte, am 9. November 1989 ist das jüngste und freudigste Ereignis in dieser Reihe.
Aber gerade deshalb bleibt es der Auftrag eines jeden wirklichen Patrioten in diesem Land, die Erinnerung auch an die schrecklichen Kapitel der deutschen Geschichte lebendig zu halten. Der 9. November mahnt uns, dass eine lebendige Demokratie die einzige politische Ordnung ist, die in unserem Land ─ ebenso wie in jedem anderen ─ den Schutz von Menschen- und Bürgerrechten sicherstellt.
Wendepunkte der Geschichte
Manche dieser Wendemarken, wie etwa die Hinrichtung des Revolutionärs und Parlamentariers Robert Blum vor 165 Jahren, sind zu Unrecht fast in Vergessenheit geraten. Diese obrigkeitliche Gewalttat markierte den Anfang vom Ende der demokratischen 1848er Revolution. Ihr Scheitern warf die Parlamentarisierung der deutschen Staaten um Jahrzehnte zurück.
Demokratie wurde hierzulande erst durch eine Revolution am 9. November 1918 erzwungen. Die Weimarer Republik zerfiel trotz aller Opfer, die gerade Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für sie brachten, durch die hartnäckige Obstruktion ihrer Feinde.
Am 9. November 1923, vor 90 Jahren, versuchte Adolf Hitler mit seinem Putschversuch in München zum ersten Mal vergeblich, die Ergebnisse der Novemberrevolution umzudrehen. Zehn Jahre später gelang ihm dies auf legalem Weg.
Damit verloren Hitlers Gegnerinnen und Gegner den rechtstaatlichen Schutz der Demokratie. Viele bezahlten das mit ihrem Leben. Im Zentrum des nationalsozialistischen Hasses standen neben den als "Novemberverbrecher" geschmähten Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen die deutschen Jüdinnen und Juden.
Staatlich verordnete Pogrome
Deren Ausgrenzung aus ihrem eigenen Land betrieben die Nationalsozialisten zunächst mit kleinen, dann immer drastischeren Schritten. Den ersten Höhepunkt erreichte die Verfolgung der jüdischen Bürger in Deutschland in der Nacht vom 9. auf den 10. November vor 75 Jahren. Weil die Pogrome in diesen Novembertagen des Jahres 1938 zu den beschämendsten Momenten unserer Geschichte gehören, dürfen wir sie nie vergessen.
Jüdinnen und Juden als Freiwild
Mit Zynismus und Zielstrebigkeit bereiteten die Nazis überall in Deutschland den Angriff auf jüdisches Leben vor. Die Novemberpogrome machten deutsche Juden zu Freiwild. Ein straff organisierter Mob von SA-Leuten und Volkszorn spielenden NSDAP-Mitgliedern zündete unter dem Schutz von Polizei und Feuerwehr Synagogen an und demütigte jüdische Bürgerinnen und Bürger auf offener Straße.
Überall in Deutschland wurden Läden und Büros von Juden angegriffen. Was die Nazis beschönigend "Arisierung" nannten, war nackter Raub: Menschen wurden aus ihren Wohnungen vertrieben, Geschäfte ohne weitere Begründung an neue, nicht-jüdische Besitzerinnen und Besitzer übertragen, Kunstgegenstände geraubt und Lösegeld erpresst. An der Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung bereicherten sich viele Deutsche ganz schamlos.
Spätestens seit den Novemberpogromen 1938 standen Jüdinnen und Juden in Deutschland ohne Recht und ohne Schutz da. Vielen Nationalsozialisten galten sie nicht einmal mehr als Menschen. Heute wissen wir, dass der 9. November 1938 eine Wende in der Geschichte der Judenverfolgung in Deutschland und später überall im deutsch besetzten Europa darstellte.
Die Pogrome ebneten den Weg zur Politik der Vernichtung des europäischen Judentums, an dessen Ende Auschwitz, Treblinka und unzählige andere Schauplätze eines beispiellosen Massenmordes standen.
Demokratie und Freiheit
Die SPD feiert 2023 den 160. Jahrestag ihrer Gründung. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben in dieser Zeit oft unter Verfolgung gelitten. Gerade deshalb erinnern wir mit besonderem Nachdruck an die Novemberpogrome. Sie mahnen uns Nachgeborene, dass wir Verfolgung von Menschen gegenüber nicht gleichgültig bleiben können und werden ─ vergangenen gegenüber nicht, und noch viel weniger denen in der Gegenwart.
Sie mahnen uns auch, denen zu helfen, die vor Verfolgung fliehen müssen. Die Erinnerung an den 9. November 1938 lehrt uns, dass Demokratie und Freiheit Güter sind, die wir niemals aufgeben dürfen.