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1949 | Grundgesetz
Das Grundgesetz tritt in Kraft
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland trägt eine sozialdemokratische Handschrift. Es eilt der praktischen Politik weit voraus.
1948: der Zweite Weltkrieg liegt in Europa drei Jahre zurück. Das besiegte Deutschland ist in vier Besatzungszonen geteilt. Zwischen Ost und West beginnt der „Kalte Krieg“.
In den drei Westzonen sind alte Länder wieder erstanden und neue gegründet worden. Aus dem westlichen Teil Preußens gehen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hervor. Seit dem 18. Juni wird im Westen mit der neuen D-Mark bezahlt.
Vom 23. auf den 24. Juni kappt die sowjetische Besatzungsmacht alle Verbindungen zwischen Berlin und dem Westen. Der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter (SPD) ruft in einer der berühmtesten Reden des 20. Jahrhunderts: "Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!"
Beratungen im Schatten von Skeletten
In einer beispiellosen Anstrengung versorgen die US-Amerikaner die zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger West-Berlins über eine Luftbrücke. Die Vorbereitungen zur Gründung eines West-Staats laufen an. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten denken schon seit längerem über eine Verfassung für Nachkriegs-Deutschland nach. Deutschland soll ein sozialer, demokratischer Rechtsstaat werden. Freilich haben sie dabei das ganze Land im Auge.
Im Juli 1948 verständigen sich die Ministerpräsidenten und Besatzungs-Behörden auf die Gründung eines West-Staats als Zusammenschluss von elf Ländern. Im August stellt ein juristischer Konvent auf der Insel Herrenchiemsee Vorüberlegung für eine Verfassung an. Am 1. September tritt im Bonner Museum Alexander Koenig ein 65-köpfiger Parlamentarischer Rat zusammen – unter den Gerippen prähistorischer Tiere. 5 nicht stimmberechtigte Vertreter Berlins kommen hinzu.
Ein verhängnisvoller Fehler
SPD und CDU/CSU stellen mit je 27 Abgeordneten das Gros des Rates. Nur vier Frauen gehören dem Gremium an. Zwei davon sind Sozialdemokratinnen: Elisabeth Selbert und Friederike (Frida) Nadig. Gleich zu Beginn der Beratungen begeht die SPD einen entscheidenden taktischen Fehler.
Ihr ist die Leitung des Hauptausschusses, der die wesentliche Arbeit leistet, wichtiger als der eher repräsentative Vorsitz des Rates. So kann sich der zuvor weithin unbekannt ehemalige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer von der CDU, bald "auf ganz natürliche Weise" als "Sprecher der werdenden Bundesrepublik" profilieren – in den Worten des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuß (FDP).
Bei der SPD hält der Vorsitzende Kurt Schumacher alle Fäden in der Hand. Doch Schumacher, der unter den Nazis ein Jahrzehnt lang in Gefängnissen und Konzentrationslagern gesessen hat, ist schwer krank. Im September muss ihm ein Bein amputiert werden.
Wortführer der SPD im Parlamentarischen Rat wird Carlo Schmid – doch Schumacher legt Wert darauf, vom Krankenbett aus stets das letzte Wort zu haben. Der joviale, lebensfrohe Schmid, Sohn eines Deutschen und einer Französin, wird in den Schatten Adenauers gezwungen. Jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung.
Grundrechte sind das Wichtigste
In den Beratungen sind Schmid und auch Elisabeth Selbert oft tonangebend. Elisabeth Selbert erreicht, dass in den Artikel 3 des Grundgesetzes der revolutionäre Satz aufgenommen wird: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Schmid setzt durch, dass ein Katalog elementarer Grundrechte – wie dem der Gleichberechtigung – gleich an den Anfang des Grundgesetzes gestellt wird – als klares Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie und in Abgrenzung zu diktatorischen Regimen.
Maßgeblich auf Druck der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verbietet das GG jede Pressezensur. Das Recht, den Kriegsdienst zu verweigern, wird verbrieft, die Todesstrafe abgeschafft. Unverheiratete Mütter und uneheliche Kinder werden vor Diskriminierung geschützt.
Öffentlich bleibt aber vor allem eine Niederlage der SPD in Erinnerung. Wo soll der Regierungssitz der Bundesrepublik sein? Die SPD plädiert für Frankfurt. CDU und CSU verständigen sich auf Adenauers Vorschlag auf Bonn – nicht zuletzt, um die SPD und Schumacher zu düpieren.
Die SPD überlässt der Union das Feld
Als dominierende Persönlichkeit der neuen Republik wird bald Konrad Adenauer gesehen, nicht der noch 1948 erheblich populärere Schumacher. Bei der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 kommt die SPD nur auf enttäuschende 29,2 Prozent.
Carlo Schmid setzt sich für die deutsch-französische Verständigung ein, kann aber auch dabei dem Schatten Adenauers nicht entkommen. 1959 unterliegt er bei der Wahl zum Bundespräsidenten knapp dem CDU-Kandidaten Heinrich Lübke.
Am 8. Mai 1949 stimmt der Parlamentarische Rat abschließend über das Grundgesetz ab. Es gibt zwölf Gegenstimmen, darunter sechs aus den Reihen der Union (der CSU). Nach Zustimmung der Länder – Bayern verweigert sich – und der Besatzungsmächte tritt das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft. Es trägt in wesentlichen Teilen eine sozialdemokratische Handschrift. Dennoch gelingt es der Union, sich zunächst als die tragende Partei der neuen Republik zu profilieren.