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1957 | GVP
19. Mai 1957
Neue Sozis
Die Geschichte der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Sie existierte nur fünf Jahre und war in dieser Zeit vor allem eines: erfolglos.
Eine kleine Partei hinterlässt tiefe Spuren
Und doch haben ihre Mitglieder die politische Landschaft in der Bundesrepublik nachhaltig geprägt. Das Erbe der GVP lebt in der SPD fort.
Die Geschichte der Partei beginnt im Sommer 1950, als es zwischen dem christdemokratischen Bundesinnenminister Gustav Heinemann und Kanzler Konrad Adenauer zum Bruch kommt. Adenauer will die Bundesrepublik in die NATO integrieren und strebt den Aufbau einer Armee an.
Für Frieden in Europa
Für Heinemann inakzeptabel: Er träumt von einem wiedervereinten und friedlichen Deutschland, das sich aus dem Ost-West-Konflikt heraushält. Ein Beitritt zum westlichen Militärbündnis würde diese Hoffnung zunichte machen, fürchtet Heinemann. Er tritt als Minister zurück und gründet ein Jahr später mit Gleichgesinnten die "Notgemeinschaft für den Frieden Europas".
1952 geht daraus die Gesamtdeutsche Volkspartei hervor. Die Partei will ein Sammelbündnis für alle Gegner der Adenauerschen Westbindung sein. Doch tatsächlich versammelt sie zunächst nur ein paar hundert Anhänger, zum größten Teil protestantische Akademiker. Da hilft es auch nichts, dass Heinemann eine prominente Mitstreiterin zur Seite steht: die ehemalige Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei Helene Wessel.
Die Wahl 1953 wird zum Schock
Dennoch wähnen viele GVP-Mitglieder anfangs eine Mehrheit der Deutschen hinter sich. Die Bundestagswahl am 6. September 1953 holt sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Urnengang ist zugleich eine Abstimmung über die Westbindung und die Deutschlandpolitik Adenauers.
Dabei erlebt die GVP ein Desaster: Sie kommt auf gerade einmal 1,2 Prozent der Wählerstimmen. Adenauers CDU dagegen erringt die absolute Mehrheit der Bundestagsmandate. Die Christdemokraten profitieren von der Stimmung nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand vom 17. Juni in der DDR. Dass die Sowjetunion ein wiedervereintes und nichtkommunistisches Deutschland akzeptieren würde, will seitdem kaum noch jemand glauben.
Das Debakel ist aber auch die Folge eines verhängnisvollen Wahlbündnisses, das die GVP mit dem "Bund der Deutschen" geschmiedet hat. Letzterer will ebenfalls ein neutrales Deutschland, steht aber unter dem Verdacht, enge Verbindungen zur SED zu unterhalten – nicht zu Unrecht, wie sich später herausstellen soll. Adenauers Wahlkämpfer nutzen diese Konstellation geschickt, um Heinemanns Anhänger als Wegbereiter des Kommunismus zu verunglimpfen.
Bürgerliche finden ihren Weg zur SPD
In den folgenden Jahren tritt die GVP zu Landtagswahlen gar nicht erst an – außer in Baden-Württemberg, wo sie 1956 mit 1,5 Prozent erneut krachend scheitert. Im Mai 1957 zieht die Partei die Konsequenz aus den Niederlagen und löst sich auf.
Gleichzeitig beschließen die Delegierten des letzten Parteitags, allen Mitgliedern den Eintritt in die SPD nahezulegen, die Adenauers Rüstungspolitik und der Westintegration ebenfalls ablehnend gegenübersteht. Viele Mitglieder folgen dem Aufruf – und besetzen schnell wichtige Posten bei den Sozialdemokraten. Einige von ihnen prägen in den folgenden Jahrzehnten die SPD. Erhard Eppler zum Beispiel, der schon 1956 die Partei gewechselt hat.
Gustav Heinemann wird 1969 zum ersten sozialdemokratischen Bundespräsidenten gewählt. Ihm folgt später Johannes Rau ins Amt, der ebenfalls aus der GVP heraus zu den Sozialdemokrat*innen gestoßen war.
Die Übertritte der überwiegend protestantischen und akademisch gebildeten GVP-Anhängerinnen und -Anhänger zur SPD wirken sich aber auch auf die CDU aus. Denn sie muss nun endgültig ihren Anspruch aufgeben, alleinige Vertreterin des christlichen Bürgertums zu sein.