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2003 | Agenda 2010
14.03.2003
Bundeskanzler Schröder stellt die Agenda 2010 vor
Die "New Economy" ist zusammengebrochen. Die deutsche Wirtschaft stagniert. Der Sozialstaat droht unfinanzierbar zu werden. Die rot-grüne Bundesregierung wagt einen Befreiungsschlag und nennt ihn "Agenda 2010".
Im Herbst 2002 wird Rot-Grün nach vier Regierungsjahren wiedergewählt. Lange sieht es nach einem Wahlsieg Edmund Stoibers aus. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) hilft sein klares "Nein" zu einem Krieg gegen Irak. Auch sein beherztes Auftreten während des dramatischen Hochwassers am Oberlauf der Elbe schadet nicht.
Die Wirtschaftsdaten sind verheerend. Deutschland gilt im zunehmend globalen Wettbewerb um Investitionen als unattraktiver "Standort": hohe Steuern, hohe Abgaben, viel Bürokratie, ein unflexibler Arbeitsmarkt. Das Wirtschaftswachstum liegt weit unter dem EU-Durchschnitt. 4,7 Millionen Menschen sind arbeitslos gemeldet. Die öffentliche Verschuldung nimmt rasant zu.
Eine Flucht nach vorn
Am 14. März 2003 gibt Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag ab. Es gehe darum, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, statt Opfer der Märkte zu werden: "Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden."
Nicht um den Abbau des Sozialstaates geht es Schröder und seinem neuen "Superminister" für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, sondern darum, dem deutschen Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung und der alternden Gesellschaft (demografischer Wandel) eine Zukunft zu geben. Schröder: "Wir werden die Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern."
Während wirtschaftsnahe Verbände, Professoren und Medien von einem Schritt in die richtige Richtung sprechen und das Wort vom "Reformstau" bald vergessen ist, gelingt es Kritikern, die Agenda 2010 mit "Sozialabbau" gleichzusetzen.
Aufbruch zur Ganztagsschule
Die Agenda 2010 setzt sich aus einem Bündel an Reformen des Arbeitsmarktes, der Sozialhilfe und des Gesundheitssystems zusammen. Ziel ist die Ankurbelung der Wirtschaft. Unter der Überschrift vom "Fördern und Fordern" werden staatliche Leistungen an Anstrengungen der Hilfe-Empfänger*innen gekoppelt. Lohnnebenkosten werden gesenkt. Aus Arbeitsämtern werden Agenturen. Die Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten wird neu definiert. Umschulung wird gefördert. Der Sprung in die Selbstständigkeit wird erleichtert. Mit vier Milliarden Euro fördert der Bund massiv den Ausbau von Ganztagsschulen.
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe werden zusammengelegt. Das neue "Arbeitslosengeld II" wird als "Hartz IV" zu einem Kampfbegriff der Agenda-Gegner*innen. Besonders zu schaffen macht der SPD, dass die Agenda 2010 die Ansprüche älterer Arbeitsloser beschneidet, die jahrzehntelang gearbeitet haben: ein Fehler, der bald korrigiert wird, aber nachwirkt.
Als einerseits erfolgreich, andererseits verhängnisvoll erweist sich auch die Erleichterung von Zeit- und Leiharbeit. Zwar sinkt die Arbeitslosenquote, doch skrupellose Unternehmer nutzen die erzwungene "Flexibilität" von Arbeitnehmern zur Lohndrückerei.
Die Agenda ermöglicht "Die Linke"
Zunächst gelingt es Schröder und Clement, SPD und Grüne hinter der Agenda 2010 zu vereinen. Einem einstimmigen Beschluss des SPD-Präsidiums folgt eine mehr als 80-prozentige Zustimmung auf einem Sonderparteitag am 1. Juni 2003. Ein Mitgliederbegehren gegen die Agenda bringt es auf nur 21000 Stimmen – für einen erfolgreichen Mitgliederentscheid wären mehr als dreimal so viele Unterschriften notwendig gewesen.
Doch in den Gewerkschaften, vor allem in IG Metall und Verdi, schwillt die Kritik an der Agenda zu einer Protestbewegung an. Gewerkschafter beteiligen sich an Aufrufen zu "Montagsdemonstrationen" gegen den "Sozialabbau". 2004 entsteht im Westen der Republik die Wahlinitiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die sich mit der SED-Nachfolgepartei PDS zur "Die Linke" zusammenschließen wird. Im Mai 2005 setzt sich der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine an die Spitze der Protestpartei.
Debakel in Nordrhein-Westfalen
Der SPD laufen Mitglieder und Wähler*innen davon. Gerhard Schröder gibt 2004 den SPD-Parteivorsitz an Franz Müntefering ab. Im Mai 2005 verliert die SPD die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen – wo sie seit 1966 ununterbrochen regiert hat. Schröder und Müntefering entschließen sich noch am Abend der NRW-Wahl zu Neuwahlen im Bund.
Bei der Wahl im Herbst kommen CDU und CSU auf 35,2 Prozent, die SPD auf 34,2, die Linke auf 8,7 Prozent.
Weder eine rot-grüne noch eine schwarz-gelbe Regierung hätten eine Mehrheit im Bundestag. Es bleibt nur die Bildung einer Großen Koalition. Da die Union stärker ist als die SPD, stellt sie mit Angela Merkel die Bundeskanzlerin. Die Ära Schröder ist beendet. Dank der Agenda-Reformen überwindet Deutschland nicht nur die Rezession. Es übersteht auch die Finanzmarktkrise 2008 deutlich besser als alle seine Nachbarstaaten. International gilt die Agenda-Politik heute als Muster erfolgreicher und mutiger Reformen. Vom Schlusslicht Europas wurde Deutschland zum wirtschaftlichen Motor der EU.
Klingbeil: Schröder in SPD politisch isoliert
Der Blick auf die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder wird heute davon überschattet, dass Schröder sich auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nicht vom russischen Präsidenten Wladimir Putin distanziert. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil urteilte deshalb 2022: „Für uns steht fest: Politisch ist Gerhard Schröder mit seinen Positionen in der SPD isoliert.“