Es sind Entscheidungen, die sich niemand wünscht: Wie umgehen mit Patienten, wenn die Möglichkeiten zu einer umfassenden Behandlung nicht mehr für alle ausreichen? Der Bundestag muss „unverzüglich“ Vorkehrungen treffen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer solchen Triage. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem am Dienstag veröffentlichten Beschluss entschieden. Was heißt das? Wir geben Antworten auf die wichtigsten Fragen.
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Das Wort Triage stammt vom französischen Verb „trier“, das „sortieren“ oder „aussuchen“ bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärztinnen und Ärzte entscheiden müssen, in welcher Reihenfolge sie Menschen helfen - was bedeutet, dass für manche Hilfe zu spät kommen kann.
Mit dem Konzept der Triage arbeiten Ärztinnen, Ärzte und ihre Helferinnen sowie Helfer bei großen Unglücken mit einer hohen Anzahl von Verletzten. Dabei überbrücken sie eine meist kurzfristige Notlage.
In der Pandemie meint Triage eher, dass ausgewählt wird, wer Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung bekommt oder dass ein Patient mit schlechter Prognose sein Bett räumen muss für einen Erkrankten, dem bessere Chancen eingeräumt werden. Schon das Verschieben von Operationen sei aus seiner Sicht eine stille Triage, meint der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch.
„Eine Triage wäre eine Bankrotterklärung des deutschen Gesundheitswesens“, sagte der Intensivmediziner Christian Karagiannidis jüngst im NDR-Podcast „Coronavirus-Update“. „Triage würde ja bedeuten, dass man das Leben eines Patienten beendet zugunsten eines anderen Patienten.“ Angesichts der großen Krankenhauskapazität dürfe das in Deutschland einfach nicht passieren. Es könne aber eine Priorisierung geben bei der Frage, ob Patienten in großen Kliniken behandelt werden.
Konkret geht es in dem Beschluss um Menschen mit Behinderung. Eine Behinderung im Sinne von Artikel 3 des Grundgesetzes liegt nach Angaben des Gerichts vor, „wenn eine Person in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist“. Gemeint seien damit nicht geringfügige Beeinträchtigungen, sondern längerfristige Einschränkungen von Gewicht. Das Grundrecht schütze somit auch chronisch Kranke. Viele der Klägerinnen und Kläger beispielsweise sind nach Gerichtsangaben seit Jahren auf Rollstühle angewiesen. Einer hat eine schwere koronare Herzerkrankung, ein anderer eine Hirnschädigung seit der Geburt, ein dritter die sogenannte Glasknochenkrankheit.
In dem Beschluss heißt es: „Der Gesetzgeber ist gehalten, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zu treffen.“ Welche das sein sollen, überlässt das Gericht der Politik. Der Gesetzgeber könne konkrete Kriterien benennen, nach denen zu entscheiden ist, wie knappe Ressourcen zur Lebensrettung verteilt werden. Auch Vorgaben zum Verfahren sind möglich - etwa wer alles an einer solchen Entscheidung beteiligt werden muss. Zudem könnten Aspekte von Diskriminierung und Benachteiligung verbindlich als Teil von Aus- und Fortbildungen festgelegt werden. Dem Bundestag steht es frei, welche Maßnahmen oder welches Bündel er für geeignet hält.
Der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, auch künftig liege die Entscheidung am Ende bei Ärztinnen und Ärzten. „Politiker und Richter können ja nicht im hochakuten Einzelfall die Entscheidung auf der Intensivstation treffen.“
Die Politik könne aber gesetzliche Leitplanken einziehen für solche Entscheidungen, ähnlich wie beim Transplantationsgesetz, wo „Dringlichkeit“ und „Erfolgsaussichten“ entscheidende Kriterien seien. Auf dieser Grundlage formuliere die Bundesärztekammer unter wissenschaftlichen Erwägungen Richtlinien, sagte Montgomery. „Ähnliches sollte nun in der Triagegesetzgebung geschehen. Der Bundestag definiert die Leitplanken, medizinisch-wissenschaftlich kompetente Organisationen formulieren die Handlungsleitlinien - und passen sie entsprechend dem Stand der Wissenschaft an. Aber die Verantwortung für die Letztentscheidung wird immer bei Ärztinnen und Ärzten bleiben.“
„Unverzüglich“ wird in der Justiz meist definiert als „ohne schuldhaftes Zögern“. Anders als etwa bei seiner Entscheidung zu Nachbesserungen beim Klimaschutz hat das Verfassungsgericht kein konkretes Datum genannt, bis wann der Bundestag die Vorgaben umsetzen muss.
Nicht zuletzt wegen anhaltend hoher Corona-Zahlen und der als hoch ansteckend geltenden Omikron-Mutante ist aber davon auszugehen, dass sich die Politik aus Sicht des Gerichts nicht allzu viel Zeit lassen sollte für erste Schritte wie die Vorlage eines Gesetzesentwurfs. Auch schauen die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber nicht auf die Finger. Es wäre ein neuer Antrag nötig, damit das Gericht überprüft, ob die Politik schon in ausreichendem Umfang tätig geworden ist.
Patientenschützer Brysch geht davon aus, dass bis zu einem handfesten Ergebnis mehrere Monate ins Land gehen werden - und hält das angesichts der Komplexität des Themas auch für angemessen. Sehr viel länger sollten sich die Abgeordneten aber keine Zeit lassen, mahnte er: „Wir wissen ja nicht, wie die Lage im nächsten Herbst ist.“
Bei Patienten, die eine intensivmedizinische Behandlung bekommen, liegt die Sterblichkeit laut dem Hamburger Intensivmediziner Stefan Kluge bei 30 bis 50 Prozent. Von den Schwerkranken, die an eine künstliche Lunge angeschlossen werden müssen, schaffe es mehr als jeder Zweite nicht.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat einen zügigen Gesetzentwurf der Bundesregierung angekündigt. Die SPD-Bundestagsfraktion will noch im Januar Beratungen beginnen.
(mit dpa)