Europas Sicherheit ist bedroht. So wenig wir uns das noch vor wenigen Jahren vorstellen mochten, so sehr steht die Sorge um Europas Sicherheit heute ganz oben auf unserer politischen Agenda.
Bereits vor dem Ukraine-Konflikt ließ sich eine lange für überwunden gehaltene Blockkonfrontation neu erspüren. Nicht mehr als Antagonismus zwischen Kommunismus und Kapitalismus, sondern als Auseinandersetzung über die richtige gesellschaftliche Ordnung – über Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – und als Ringen um geopolitische Einflusssphären.
Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim hat Russland die Grundprinzipien der europäischen Friedensarchitektur in Frage gestellt. Die Konfliktstrukturen haben sich dramatisch verändert: Hybride Formen der Konfrontation und nichtstaatliche Akteure gewinnen an Bedeutung. Neue Technologien bergen auch neue Gefahren: offensive Cyberfähigkeiten, bewaffnete Drohnen, Robotik, elektronische Kampfmittel, Laser- und Abstandswaffen. Neue Einsatzszenarien – kleinere Einheiten, höhere Schlagkraft, schnellere Verlegbarkeit – werden von den geltenden Transparenz- und Kontrollregimen nicht erfasst. Es droht eine neuartige, gefährliche Rüstungsspirale.
Die Konfliktmuster sind andere, doch eine Erinnerung bleibt wach: Mitten in den kältesten Tagen des Kalten Krieges wagte Willy Brandt gegen viel Widerstand die ersten Schritte der Entspannungspolitik. Über alles Trennende hinweg suchte er nach Gemeinsamem – und fand es in den Ostverträgen und den Grundsätzen der Schlussakte von Helsinki. Frieden in Europa, das Erbe der Entspannungspolitik – wir hatten das in den vergangenen zwei Jahrzehnten für selbstverständlich gehalten. Jetzt steht alles wieder auf dem Spiel. Tiefe Gräben sind zwischen Russland und dem Westen aufgebrochen, und ich fürchte, wir können sie auch mit größten Anstrengungen so schnell nicht wieder schließen. Gewiss ist nur: Ohne solche Anstrengungen wird der Frieden in Europa und darüber hinaus brüchig.
Die Rezepte der Vergangenheit helfen nicht immer, aber die Lehren aus der Entspannungspolitik bleiben richtig: Auch über tiefe Gräben muss man versuchen, Brücken zu bauen. Wir dürfen Sicherheit in Europa nicht auf Dauer gegeneinander organisieren. Sicherheit ist kein Nullsummenspiel. Wir dürfen auch nicht aufhören, nach Möglichkeiten und Feldern kooperativer Sicherheit zu suchen. Deshalb brauchen wir konkrete Sicherheitsinitiativen.
Niemand sollte sich Illusionen machen über die Schwierigkeiten und über das, was jetzt möglich ist – gerade heute, in einer Welt aus den Fugen, inmitten all der Konflikte, in der Ostukraine, in Syrien und in Libyen, in Zeiten, wo wir auch vor einer erneuten Eskalation und weiteren Rückschlägen nicht gefeit sind.
Aber gerade deshalb werbe ich für einen Neustart der Rüstungskontrolle als bewährtes Mittel für Transparenz, Risikovermeidung und Vertrauensbildung.
Im Umgang mit Russland setzt der Westen, seit dem Harmel-Bericht von 1967, auf die Doppelstrategie von Deterrence und Détente. Auf dem Warschauer Gipfel hat sich die NATO zu dieser Doppelstrategie bekannt. Wir haben die notwendige militärische Rückversicherung beschlossen, und wir haben zugleich unsere politische Verantwortung für kooperative Sicherheit in Europa bekräftigt.
Nur: Abschreckung ist konkret, und für alle sichtbar. Aber auch das Angebot zur Kooperation muss konkret sein! Sonst geht das Gleichgewicht verloren, entstehen Fehlperzeptionen, und einer Eskalationsspirale bleibt wenig entgegenzusetzen.
Die bestehenden Regime für Rüstungskontrolle und Abrüstung zerfallen seit Jahren. Der KSE-Vertrag, der nach 1990 zehntausende Panzer und schwere Waffen in Europa vernichten half, wird seit Jahren von Russland nicht mehr umgesetzt. Verifikationsmechanismen des Wiener Dokuments laufen ins Leere, Russland verweigert sich einer notwendigen Modernisierung. Auch der Vertrag über den Offenen Himmel wird eingeschränkt. Mit der Annexion der Krim ist das Budapester Memorandum als Sicherheitsgarantie für die Ukraine Makulatur. Über Jahrzehnte mühsam aufgebautes Vertrauen ist dahin.
Zugleich hören wir von Russland Forderungen nach einer neuen Debatte über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa. Höchste Zeit, Russland beim Wort zu nehmen!
Ein Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle muss aus meiner Sicht fünf Bereiche abdecken. Wir brauchen Vereinbarungen, die
- regionale Obergrenzen, Mindestabstände und Transparenzmaßnahmen definieren (insbesondere in militärisch sensiblen Regionen, zum Beispiel im Baltikum),
- neuen militärischen Fähigkeiten und Strategien Rechnung tragen (Wir reden heute weniger von klassischen, schweren Armeen als von kleineren, mobilen Einheiten, also sollten wir zum Beispiel Transportfähigkeit mitbeachten),
- neue Waffensysteme einbeziehen (zum Beispiel Drohnen),
- echte Verifikation erlauben: rasch einsetzbar, flexibel und in Krisenzeiten unabhängig (zum Beispiel durch die OSZE),
- auch in Gebieten anwendbar sind, deren territorialer Status umstritten ist.
Das sind komplexe und schwierige Fragen. Dazu wollen wir einen strukturierten Dialog, mit allen Partnern, die für die Sicherheit unseres Kontinents Verantwortung tragen. Ein wichtiges Dialogforum dafür ist die OSZE, deren Vorsitz Deutschland in diesem Jahr innehat.
Kann ein solches Unterfangen Erfolg haben – in diesen Zeiten einer erodierenden Weltordnung und mit Blick auf Russland? Ich gebe zu: Das ist nicht gewiss. Aber deshalb den Versuch zu unterlassen, wäre wenig verantwortungsvoll. Ja, Russland hat grundlegende Friedensprinzipien gebrochen. Ja, diese Prinzipien – territoriale Unversehrtheit, freie Bündniswahl, Akzeptanz des Völkerrechts – sind für uns nicht verhandelbar. Doch zugleich muss uns das Interesse einen, jede weitere Drehung der Eskalationsspirale zu vermeiden. Wir teilen die Sicht, dass unsere Welt gefährlicher geworden ist: islamistischer Terrorismus, erbitterte Konflikte im Mittleren Osten, zerfallende staatliche Ordnungen, die Flüchtlingskrise gefährden uns alle. Unsere sicherheitspolitische Leistungsfähigkeit – im Westen wie in Russland – ist auf‘s Äußerste angespannt. Keiner gewinnt, alle verlieren, wenn wir uns in einem neuen Rüstungswettlauf gegeneinander erschöpften.
Mit einem Neustart der Rüstungskontrolle können wir ein konkretes Kooperationsangebot machen, und zwar an alle, die für Europas Sicherheit Verantwortung tragen wollen.
Es ist an der Zeit, das Unmögliche zu versuchen …
Namensartikel von Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.08.2016).