Der Leser möge mir eine Prise historischer Ironie erlauben, wenn ich meine Überlegungen zur Geschichte sozialdemokratischer Außenpolitik mit einem unerwarteten Protagonisten beginne: mit Otto von Bismarck. In wenigen Tagen jährt sich Bismarcks Geburtstag zum 200. Mal. Sein Erbe prägt deutsche Außenpolitik bis heute – auch in Bezug auf die SPD. Denn in der Auseinandersetzung mit Bismarck, in der Reibung an Bismarck weit über dessen Tod hinaus, spiegelt sich das grundsätzliche Spannungsfeld wider, das die Außenpolitik der SPD bis heute kennzeichnet: nämlich das Spannungsverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit.
Auf der einen Seite steht unsere Vision einer friedlichen Welt, von Gerechtigkeit und Verständigung unter den Völkern; eine Vision, die Sozialdemokraten schon zu Bismarcks Zeiten, auch gegen Bismarck vertreten haben – doch auf der anderen Seite eine, leider auch heute, durch und durch unfriedliche Realität.
„Realpolitik“ ist das Stichwort. Bismarck war nun einmal –bei aller berechtigten Kritik an seinen Haltungen und seinen Methoden– ein Meister der Analyse, ein scharfer Beobachter der Wirklichkeit.
Vor genau 50 Jahren, also zu Bismarcks 150. Geburtstag, erschien in der Zeitung ‚Die Welt‘ ein Artikel [PDF, 3 MB] unter der Überschrift: „Bismarck und die Kunst des Möglichen“.
Darin heißt es: „[Bismarcks] oberste Maxime, die Politik als Kunst des Möglichen zu erkennen, ist zu oft mit dem Munde nachvollzogen und zu wenig mit Verstand befolgt worden. Denn sie bedeutet, dass […] es weder Kunst noch Politik ist, im Wunschdenken befangen zu bleiben.“ Der Autor dieser Würdigung ist kein anderer als Willy Brandt!
Der Außenpolitiker Willy Brandt war eben beides: Friedenspolitiker und Realpolitiker. Und beides muss sozialdemokratische Außenpolitik auch heute vereinen: die Zielvorstellung einer friedlichen, gerechten und regelbasierten internationalen Ordnung und die Bereitschaft, den praktisch möglichen Schritt zu identifizieren und zu gehen, selbst wenn er nur klein und selbst wenn er mit Risiken behaftet ist. Ich nenne diese Mischung aus idealistischem Ziel und pragmatischem Weg „Friedensrealismus“.
Drei Felder, auf denen die SPD seit Jahrzehnten um die rechte Balance des Friedensrealismus gerungen hat, sind heute noch entscheidend, um diesen Anspruch ins 21. Jahrhundert fortzutragen. Sie heißen Ostpolitik, Europa und internationale Ordnung.
Dialog mit Russland suchen
Schauen wir noch einmal in Brandts kurzen Text über Bismarck: „Zu den Realitäten gehört die geografische Lage Deutschlands in der Mitte Europas mit Russland als einem indirekten, aber unaustauschbaren Nachbarn. […] Es geht heute erst recht um die Zukunft des [deutschen] Volkes, das zwischen Ost und West lebt, zum Westen gehören will und den Ausgleich mit dem Osten braucht. Neu ist dabei die Chance, die sich aus der europäischen Entwicklung ergibt.“
Dieser Text ist 50 Jahre alt und könnte fast ein Kommentar zur heutigen Lage sein. Die Neue Ostpolitik, die Willy Brandt und Egon Bahr entwarfen, ist ein einzigartiger außenpolitischer Erfahrungsschatz und kann uns heute, in Zeiten des Ukraine-Konflikts, Orientierung bieten.
Zuvorderst gilt es, die große Errungenschaft der europäischen Friedensordnung zu erhalten. Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine hat sich Russland offen gegen diese europäische Friedensordnung gestellt. Das dürfen gerade wir Sozialdemokraten nicht ignorieren.
Zugleich stellt Willy Brandt lakonisch fest, Russland bleibe ein „unaustauschbarer Nachbar“ Europas. Das gilt bis heute: Nachhaltige Sicherheit für Europa wird es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben. Und umgekehrt wird es nachhaltige Sicherheit für Russland nicht gegen, sondern nur mit Europa geben. Deutschland muss dafür, wie zu Zeiten der Neuen Ostpolitik, der Ingenieur des Dialogs mit Russland sein.
Natürlich können wir nach dieser Krise nicht zurück zu Business-as-Usual. Sondern es wird eine zentrale Aufgabe deutscher Außenpolitik für die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zerstörtes Vertrauen wieder aufzubauen. Und es wird ganz besonders eine Aufgabe für diese Partei, für die SPD, die sich in ihrer Geschichte wie wohl keine andere Partei in Europa für die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes eingesetzt hat. Nun müssen wir es wieder tun.
Europäische Verständigung bewahren
Zweitens kommt es auf das an, was Willy Brandt in dem obigen Zitat als „neue Chance“ bezeichnet: Europa. Für uns ist die Einheit Europas längst Alltag. Die Geschlossenheit Europas ist unser außenpolitisches Pfund. Sie ist und bleibt ein Wert an sich.
Sie ist aber alles andere als selbstverständlich! Wenn die Wirtschafts- und Währungsunion von manchen, nicht nur in Griechenland, als Hintertür zu politischer Hegemonie Deutschlands verstanden wird, dann ist das eine dramatische Fehlentwicklung. Denn das Gegenteil ist der Fall. Wirtschaftliche Verflechtung, um politische Dominanz und Konfrontation für alle Zeiten zu überwinden – das ist seit jeher Treiber der europäischen Integration. Diese politische Motivation muss über allem ökonomischen Sachzwang stehen – und es ist Aufgabe der SPD, daran zu erinnern.
„[Die SPD] tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit“ und damit letztlich „für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker […] zu gelangen.“ So heißt es schon 1925 im Heidelberger Programm der SPD. Breitscheid, Scheidemann, Hermann Müller sind für diese Interessenssolidarität eingetreten – doch am Ende wurden sie übertönt und überwältigt vom Getöse des Nationalismus. Wir deutschen Sozialdemokraten von heute müssen alles tun, um die europäische Verständigung zu bewahren, die damals so tragisch gescheitert ist.
Internationale Friedensordnung erhalten
Und schließlich gibt es ein drittes Feld, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der sozialdemokratischen Außenpolitik zieht: die Sehnsucht nach einer weltweiten Friedensordnung.
Schon im Eisenacher Programm von 1869 konstituiert sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als Teil der ‚Internationalen‘. Im erwähnten Heidelberger Programm von 1925 heißt es: „[Die SPD] fordert die Demokratisierung des Völkerbundes und seine Ausgestaltung zu einem wirksamen Instrument der Friedenspolitik.“ Im Godesberger Programm von 1959 dann: „Die Vereinten Nationen müssen die allgemeine Weltorganisation werden, die sie ihrer Idee nach sein sollen. Ihre Grundsätze sollen allgemeinverbindlich sein.“ Und schließlich fordert Willy Brandt 1982 in seiner Einleitung zum Bericht der Nord-Süd-Kommission die berühmte „Weltinnenpolitik, die über den Horizont von Kirchtürmen, aber auch über nationale Grenzen weit hinausreicht.“
Und heute? Wir erleben internationale Krisen in einer Vielzahl, Heftigkeit und Komplexität, wie sie die Welt seit Willy Brandts Tagen nicht mehr gesehen hat. Und wir müssen feststellen: Diese Ballung von Krisen ist kein Zufall. Sondern sie ist symptomatisch für eine Welt, die ihre jahrzehntelange, bipolare Ordnung zwar überwunden hat, aber an deren Stelle noch keine neue Ordnung getreten ist. Sie ist eine Welt auf der Suche.
Und wir müssen feststellen: Je enger die Welt zusammenwächst, desto heftiger prallen ihre Gegensätze aufeinander. Wirtschaftliche Globalisierung allein garantiert eben noch keine politische Annäherung. Die Financial Times hat neulich formuliert: Der Kapitalismus ist politisch polygam. Mehr BMWs auf Moskaus Straßen und mehr VW-Werke in China führen nicht zwangsläufig zu mehr politischer Gemeinsamkeit. Die Krisenballung unserer Zeit entsteht nicht trotz, sondern auch wegen der Globalisierung.
Wenn ein Land darauf Antworten entwickeln muss, dann wir. Deutschland ist so vernetzt mit der Welt wie kein zweites Land. Das heißt im Umkehrschluss: Wir sind wie kein zweites Land auf eine verlässliche und regelbasierte internationale Ordnung angewiesen, und deshalb müssen wir zu ihrem Erhalt auch überdurchschnittlich beitragen.
Das gilt nicht nur für die langen Linien der globalen Ordnung; für die Stärkung der Vereinten Nationen, etwa die Zukunft des Peacekeeping, oder für neue Elemente von Ordnung, etwa im digitalen Raum durch die Arbeit an einem „Völkerrecht des Netzes“. Sondern für den Zusammenhalt von Ordnung geht es uns auch im täglichen Krisengeschehen – sei es in der Ukraine, sei es in Griechenland.
„Der dauernde Versuch, einen Ausgleich der Interessen zu suchen, […] mit sicherem Gespür für Entwicklungen des internationalen Kraftfeldes den kleinen Schritt nicht zu verachten, wenn der größere ungefährdet noch nicht gegangen werden kann – das ist die Methode der bismarckschen Außenpolitik.“ März 1965. Anderthalb Jahre später wird der Autor selbst deutscher Außenminister, als erster Sozialdemokrat in der Bundesrepublik. Und so muss ich am Ende zugeben: Ja, Otto von Bismarck ist nicht vergessen – schon gar nicht im Auswärtigen Amt. Sein Konterfrei prangt in dem Saal am Werderschen Markt, in dem jeden Morgen die Leitungsrunde meines Ministeriums tagt. Aber in meinem eigenen Büro, da steht eine Skulptur, auf die ich sehr viel lieber schaue: die von Willy Brandt.