Mehr Ordnung und Steuerung in der Flüchtlingspolitik fordern Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier. In einem Gastbeitrag für Spiegel Online machen sie sich stark für eine engere Zusammenarbeit mit der Türkei – und für Verantwortungsbereitschaft in ganz Europa. Eine Beschneidung des Asylrechts lehnen sie ab.
Täglich erreichen rund 10.000 Menschen über die Türkei die griechische Küste und schlagen sich unter teils menschenunwürdigen Bedingungen über den westlichen Balkan in die Europäische Union durch. Täglich kommen Tausende Menschen auch nach Deutschland. Diese Menschen fliehen vor Krieg, Terror und Hunger.
Wir fühlen mit ihnen, und sehen uns gleichzeitig vor eine historische Bewährungsprobe gestellt. Spannungen auf dem westlichen Balkan leben wieder auf. Die Solidarität innerhalb der Europäischen Union droht zu zerreißen. Die Helfer in Deutschland und andernorts geraten an die Grenze ihrer Belastbarkeit.
Dabei ist es nicht unbedingt die absolute Zahl der Flüchtenden, die uns an unsere Grenzen bringt, sondern die Dynamik und Geschwindigkeit, mit der die Flüchtlingszahlen in nur wenigen Monaten angewachsen sind. Eine Nation mit mehr als 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern wie Deutschland ist nicht mit einer Million Flüchtlingen überfordert. Die Unterbringung und Aufnahme einer solchen Zahl in nur einem Jahr allerdings ist nur schwer und über mehrere Jahre hinweg kaum durchzuhalten.
Geschwindigkeit der Zuwanderung reduzieren
Wir müssen deshalb die Geschwindigkeit und Dynamik der Zuwanderung abschwächen und die Zahl der Flüchtlinge, die in einem Jahr zu uns kommen, verringern. Viele Städte und Gemeinden haben schlicht keine Aufnahmekapazitäten mehr, und eine gelungene Integration braucht Maß, gute Vorbereitung und vor allem Zeit. Wir stehen vor einer Jahrzehntaufgabe für eine umfassende Gesellschaftspolitik, damit die Menschen, die bereits Schutz und neue Heimat bei uns gefunden haben, integriert werden können. Nicht nur Schweden und Österreich, unsere beiden wichtigsten Partner in diesen Monaten, brauchen eine Verringerung der Geschwindigkeit des Zuzugs, sondern auch Deutschland.
Wenn wir nicht nur ein Jahr, sondern über eine längere Zeit helfen können wollen, müssen wir mehr ordnen und steuern. Dafür brauchen wir einen Neustart in der deutschen Flüchtlingspolitik.
Deutschland muss alle politischen Möglichkeiten nutzen, um die internationalen Bedingungen für mehr Kontrolle und Steuerung der Flüchtlingsbewegungen zu schaffen. Dafür ist neben dem zwingend erforderlichen europäischen System der Registrierung und Verteilung ein Abkommen mit der Türkei ein ganz wesentlicher Baustein. Wir wollen eine wirksame Kontrolle der Seegrenze zur EU erreichen und Voraussetzungen dafür schaffen, dass die in der Türkei in Sicherheit lebenden Syrer nicht den gefährlichen illegalen Weg in die EU wählen.
Die EU-Außengrenze sichern - der Türkei helfen - Kontingente sicher aufnehmen
Wenn die Türkei bereit ist, große Beiträge zur Sicherung der gemeinsamen Grenze mit der EU zu übernehmen und zugleich Flüchtlinge, die versuchen, diese Grenze zu überschreiten, bei sich wieder aufnimmt, dann muss die Europäische Union die Türkei im Gegenzug auch solidarisch und tatkräftig unterstützen.
- Dazu gehört ein angemessener Finanzierungsbeitrag zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge.
- Dazu gehört schließlich auch, dass wir der Türkei – Zug um Zug – für Fortschritte in der Flüchtlingsfrage bei Themen entgegenkommen, die für die Menschen in der Türkei von großer Bedeutung sind: Das gilt für die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland. Hier muss aber auch künftig gewährleistet sein, dass politisch Verfolgte die Möglichkeit behalten, in Deutschland Asyl zu bekommen.
- Auch in der Frage der Visaliberalisierung müssen wir viel schneller vorankommen.
- Und schließlich müssen wir neuen Schwung in die seit Jahren stagnierenden Beitrittsverhandlungen bringen.
Wenn diese Zusammenarbeit mit der Türkei also gelingt, dann sollte – im Gegenzug – im Rahmen einer europäischen Anstrengung Deutschland in Zukunft Kontingente syrischer Flüchtlinge aufnehmen, wie es dies bei anderen Bürgerkriegskonflikten schon getan hat. Die Menschen in diesen Kontingenten sollen auf sicheren Wegen nach Europa und Deutschland gebracht werden. Statt chaotischer und ungesteuerter Zuwanderung auf gefährlichen Fluchtrouten wie heute also geordnete und sichere Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen.
Dabei muss gelten: Frauen und Kinder zuerst. Vorrang für Familien! Dieses Verfahren erhöht die Kontrolle darüber, wer zu uns kommt, denn Antragstellung, Identitätsfeststellung und Registrierung finden vor der Einreise statt. Zugleich erspart es den Menschen, die Schutz suchen, einen lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer und die Fluchtrouten. Niemand soll auf dem Weg nach Europa sein Leben riskieren. Das ist ein hoher Anspruch, aber geringer darf er nicht sein.
Klar ist für uns: Wir werden das deutsche Grundrecht auf Asyl nicht antasten. Jeder Mensch, der verfolgt ist und zu uns gelangt, muss und wird auch in Zukunft Anspruch auf ein Asylverfahren und als Asylberechtigter auch auf Aufnahme haben. Allerdings erhält nur ein relativ kleiner Teil der zu uns Flüchtenden Asyl aufgrund seiner individuellen Verfolgung. Die allermeisten flüchten vor Krieg und Bürgerkrieg und erhalten bei uns Schutz als Bürgerkriegsflüchtlinge.
Deshalb kann die Aufnahme relevanter Kontingente von Bürgerkriegsflüchtlingen die Asylverfahren nicht ersetzen, aber durchaus entlasten. Dabei gilt: Feste Obergrenzen können wir nicht definieren, denn sie ließen sich nur durch eine Abschaffung des individuellen Asylrechts in der deutschen Verfassung erreichen.
Fluchtursachen bekämpfen
Klar ist deshalb auch: Mehr Steuerung, mehr Kontrolle und Ordnung in der Flüchtlingspolitik erfordert die internationale Bekämpfung der Fluchtursachen. Dazu gehören Investitionen in die Verbesserung der Lebensbedingungen in der Türkei, in Jordanien und im Libanon. Wir brauchen den Aufbau von sicheren und menschenwürdigen Flüchtlingsunterkünften unter der Verantwortung der Vereinten Nationen.
Weiter geht es darum, den Krieg in Syrien einzudämmen und die Terrororganisation des so genannten "Islamischen Staates" vereint zu bekämpfen. Mit den Wiener Verhandlungen zu Syrien gibt es nun einen ersten, vorsichtigen Hoffnungsschimmer. Alle wichtigen syrischen Nachbarn, auch Iran, Saudi-Arabien und die Türkei sitzen mit am Tisch.
Die Türkei ist das Schlüsselland auf der Westbalkanroute. Unverzichtbarer und vor allem schnell greifender Teil eines Neustarts der Flüchtlingspolitik muss deshalb ein substanzielles Abkommen zwischen Europäischer Union und der Türkei sein. Dabei helfen weder Paternalismus noch Anbiederung. Aber es war falsch, Ankara über Jahre mit dem Hinweis auf eine wolkige "Privilegierte Partnerschaft" abzuspeisen. Die Türkei war und ist ein sicher nicht einfacher, aber eben ein unverzichtbarer Partner für Deutsche wie Europäer. Es ist gut, dass sich nun auch andere diese Einschätzung zu Eigen gemacht haben, die wir in der SPD seit Jahr und Tag vertreten.
Faire Verteilung der Lasten in Europa
Für einen Neustart müssen wir nicht zuletzt unsere Anstrengungen auf europäischer Ebene kreativer gestalten. Die Umsetzung der bereits getroffenen Beschlüsse – von der Einrichtung von Aufnahme- und Verteilungszentren bis hin zur Bereitstellung von Geldern und Personal – kommt viel zu schleppend voran. Wir werden nicht nachlassen in unserer Forderung nach einem gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenzen, nach einem echten europäischen Asylsystem und vor allem nach einer fairen Verteilung der Lasten in Europa. Aber wir müssen eben auch darüber nachdenken, ob durch einen gemeinschaftlich finanzierten europäischen Fonds Mitgliedsländer, die Flüchtlinge aufnehmen, finanziell entlastet werden können.
Als Sozialdemokraten orientieren wir uns an einem klaren Kompass. Wir wollen eine humane Flüchtlingspolitik, die Deutschland auch auf längere Sicht nicht überfordert und die zugleich die große Errungenschaft offener Grenzen in Europa sichert. Wir wollen deshalb eine Flüchtlingspolitik der Solidarität, die Lasten entlang der Westbalkanroute fairer verteilt.
Wir wollen eine europäische Flüchtlingspolitik. Deutschland kann nicht ohne Abstimmung mit den Nachbarn die Grenzen dicht machen und die europäische Solidarität aufkündigen. Wer solche Forderungen aufstellt, der hat sich siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht klar gemacht, welches existenzielle Interesse wir Deutsche an Europa haben.
Der Namensartikel erschien zunächst auf Spiegel Online.