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Foto: Norbert Walter-Borjans
photothek
03.04.2020 | Norbert Walter-Borjans im stern

Solidarität über Grenzen hinweg: Kein Staat kann diese Krise allein meistern

Norbert Walter-Borjans

Europa muss im Kampf gegen das Coronavirus zusammenhalten, fordert SPD-Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans in einem Gastbeitrag für den stern. Verlorenes Vertrauen sei sonst nicht aufzuarbeiten.

Solidarität ist ein großes Wort. In guten Zeiten spricht sich leicht aus, wie wichtig Zusammenhalt und füreinander Einstehen sind. Erst wenn es ernst wird, werden die hehren Worte auf die Probe gestellt. Es ist nicht das erste Mal, dass die Menschen in Deutschland zeigen, wie groß die Bereitschaft ist, Solidarität zu zeigen, wenn es darauf ankommt. Es tut gut zu sehen, wie viele spontane Initiativen entstehen: vom Angebot junger Menschen, für Ältere einkaufen zu gehen bis zur Entwicklung von Smartphone-Apps. Wenn es gilt anzupacken, treten sogar viele Bedenken in den Hintergrund, die in theoretischen Debatten oft für lange Kontroversen sorgen.

Solange das Weghamstern von Toilettenpapier einer der wenigen Beweise des Gegenteils ist, können wir uns sagen, dass wir die Krise gemeinsam überaus verantwortungsbewusst meistern. Wir verzichten auf Besuche bei Freunden und Verwandten, halten Abstand beim Einkaufen und murren nur leise, dass es am Wochenende keine Bundesliga gibt. Eine Krise ist das, was wir durchleben, allemal. Nie sind das gesellschaftliche Leben und die Wirtschaft in Friedenszeiten so zum Erliegen gekommen wie jetzt. Nie waren die Gefahren für Leib und Leben so wenig greifbar. Das ganze Drama erschließt sich uns bisher vor allem über Fernsehbilder aus Italien und Spanien.

Es gibt keine Blaupause für das, was zu tun ist

In dieser irreal scheinenden Lage erleben wir ein immenses Verantwortungsbewusstsein über das persönliche Verhalten hinaus. Das beginnt bei denen, die an vorderster Front im Kampf gegen den unsichtbaren Feind Covid19 stehen: die Ärzte und das Pflegepersonal. Ihnen gilt unser Dank genauso wie denen, die tagtäglich Gefahren auf sich nehmen, um die Grundfunktionen unseres Gemeinwesens zu sichern: Kassiererinnen und Kassierer im Supermarkt, das Fahrpersonal in Taxen, Bussen und Bahnen, Ordnungskräfte und viele mehr.

Was sich in dieser Zeit aber auch zeigt: Wir leben in einer stabilen Demokratie. Die demokratischen Parteien ringen hart um den richtigen Weg in die Zukunft, aber wenn es die Lage erfordert, sind sie zum engen Schulterschluss fähig – innerhalb der Regierungskoalitionen in Bund und Ländern und zwischen Regierungen, Regierungsfraktionen und Opposition. Das ist nicht überall in der Welt selbstverständlich. Es ist ein gutes Gefühl, wenn viele Menschen im Land sagen, dass ihnen die in Normalzeiten oft geschmähte Politik in diesen Tagen ein Stück Sicherheit gibt.

Dabei vergessen wir nicht, dass wir es mit nie Dagewesenem zu tun haben. Es gibt keine Blaupause für das, was zu tun ist. Für alle Verantwortungsträger ist es eine enorme Belastung, einerseits alles dafür zu tun, dass bei uns keine Ärztin und kein Arzt in die Lage kommt, aus Mangel an Behandlungsmöglichkeiten über Leben und Tod von Patienten entscheiden zu müssen, und gleichzeitig zunehmender psychischer Belastung und existentieller Bedrohung entgegenzuwirken. Umso wichtiger sind gegenseitiges Vertrauen und solidarisches Miteinander.

Ein ganz wichtiges Ziel ist, verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen

Das gilt übrigens nicht nur für uns in Deutschland. Kein Staat kann diese Krise allein meistern. Wenn wir jetzt nur auf uns selbst achten würden und andere sich selbst überließen, wäre der Zusammenhalt Europas am Ende. Mit fatalen Folgen: die Enttäuschung und das verlorene Vertrauen wären auch in guten Zeiten nicht aufzuarbeiten. Das gute Gefühl, was Verantwortungsbewusstsein und Solidarität innerhalb Deutschlands angeht, will sich in Bezug auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union aber leider nicht einstellen.

Während im Süden Europas Hunderttausende um ihr Leben und die Staaten um ihre Demokratie bangen, schotten sich andere ab und ziehen sich aus der gemeinsamen Verantwortung. Deutschland hatte in der jüngeren Vergangenheit einen nicht geringen Anteil daran, dass die Staaten des Südens nach der Finanzkrise unter ein wirklichkeitsfernes Reformdiktat gestellt wurden. Das in der Folge ausgedünnte Gesundheitswesen Spaniens lässt die aktuelle Pandemie deshalb umso härter zuschlagen.

Es ist höchste Zeit, zerschlagenes Porzellan zu kitten. Das tun wir zurzeit nach Kräften. Der deutsche Finanzminister reist seit Wochen Landauf landab zu allen Entscheidungsträgern, angefangen beim Koalitionspartner über die Verantwortlichen in den EU-Staaten bis zu den Chefs der maßgeblichen EU-Institutionen, um Einvernehmen für schnelle, massive und dauerhafte Finanzhilfen für die besonders gebeutelten Staaten zu erreichen. Ein ganz wichtiges Ziel ist dabei, verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen, jede Form früherer Maßregelung und jede Möglichkeit auszuschließen, dass Spekulanten auf den Ruin von Staaten wetten können.

Denn auch das gehört zur Wahrheit hinzu: In jeder Krise gibt es Zeitgenossen, die darin ihren Profit wittern. Im Wetten auf Probleme anderer genauso wie mit der Preistreiberei für medizinischen Mundschutz oder das Ausnutzen von Hilfsprogrammen ohne wirkliche Bedürftigkeit. Daraus gilt es nach der Pandemie Schlüsse zu ziehen und bewusstes Fehlverhalten zu sanktionieren.

Alles in allem birgt eine Krise aber immer auch die Hoffnung, dass sie bei der großen Mehrheit der Menschen zur Rückbesinnung auf das führt, was unsere Lebensqualität ausmacht: gesellschaftlicher Zusammenhalt in ganz Europa, Solidarität privat und weltweit – und das gute Gefühl, anderen etwas wert zu sein.

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