Seit einem Jahr führen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Doppelspitze die SPD. In einem gemeinsamen Interview zum Jubiläum ziehen sie eine Zwischenbilanz, blicken auf Landtags- wie Bundestagswahl – und sprechen über ihr Verhältnis zu Angela Merkel.
Frau Esken, Herr Walter-Borjans, hinter Ihnen liegt ein ereignisreiches Jahr. Was haben Sie persönlich gelernt?
Esken: Wir haben erfahren, wie in der SPD gute Parteiarbeit funktionieren kann, wenn viele zusammenarbeiten. Also nicht nur wir beide, sondern auch die Regierungsmitglieder um Vizekanzler Olaf Scholz und die Fraktionsführung um Rolf Mützenich. Wir haben ein Team geformt, das die verschiedenen Säulen und Ebenen der Partei- und Regierungsarbeit zusammenführt. Das ist ein großer Erfolg.
Walter-Borjans: Durch dieses Zusammenspiel haben wir die Kultur in der Partei ein ganzes Stück verändert. Wir haben sicherlich auch in den eigenen Reihen für Überraschung damit gesorgt, dass es ohne Basta-Ansagen, ohne Faust auf dem Tisch und mit mehr Diskretion in vertraulichen Runden sehr gut funktioniert.
Was ist vorher schlecht gelaufen in der SPD?
Walter-Borjans: Die SPD ist oft mit mit der Schere der Koalition im Kopf in Verhandlungen mit CDU und CSU gegangen,. Das führte zwangsläufig zu Kompromissen, die hinter den vorsichtigen Erwartungen zurückblieben, aber als 100 Prozent Sozialdemokratie bejubelt wurden. Viele sagen, wir gehen jetzt mit eindeutiger sozialdemokratischen Positionen in solche Gespräche. Natürlich erfordert auch das Kompromisse. Die nennen wir dann aber auch so.
Gibt es Aussagen, Tweets oder Entscheidungen, die Sie rückblickend bereuen?
Walter-Borjans: Es gibt eher einige andere, die Aussagen gemacht haben, die sie rückwirkend vielleicht anders sehen. Der FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki hat gesagt, die beiden machen es nur ein halbes Jahr. Wir sind also schon zwei Kubicki lang Vorsitzende. Das bereue ich mitnichten.
Esken: Ich kann auch nicht sagen, dass ich Dinge bedauere. Sicher ist nicht alles gleich gut gelungen. Aber es ist nicht so, dass ich einen meiner Tweets oder Aussagen in Interviews bereue. Ich habe viele notwendige Debatten angestoßen. Das braucht manchmal die Provokation, ich denke mir also schon etwas dabei.
Herr Walter-Borjans, Sie haben vor einem Jahr das Ziel ausgerufen, die SPD wieder auf 30 Prozent zu bringen. Was lief schief?
Walter-Borjans: In Umfragen sagen stabil rund 30 Prozent der Teilnehmenden, dass sie der SPD nahestehen. Diese Menschen wollen wir wieder dafür gewinnen, uns auch zu wählen. Insofern bleibt das eine richtige Zielmarke. Dass sich der Zuspruch aber durch einen Wechsel an der Parteispitze oder durch einen Kanzlerkandidaten nicht sofort ändert, überrascht mich nicht. Ich hätte mir aber gewünscht, dass wir nach einem Jahr in Umfragen auf einen höheren Wert als 17 Prozent kommen. Auch wenn wir gute Zeugnisse für unsere Arbeit in der Regierung bekommen, sagen viele Menschen noch nicht: Die SPD ist die richtige Partei, um die Probleme der Zukunft zu lösen. Dieses Vertrauen zurückzugewinnen, ist eine Menge Arbeit. Daran arbeiten wir im engen Schulterschluss der Führung und mit den Mitgliedern.
Im Moment läuft es für die SPD ganz gut in der großen Koalition. Schließen Sie eine Fortsetzung definitiv aus?
Esken: Wir streben ein progressives Regierungsbündnis mit Olaf Scholz als Kanzler an. In der großen Koalition haben wir lange genug erfahren, was wir zusammen mit der Union umsetzen können – und was nicht. Aber ein Jahr vor der Wahl ist es falsch, Koalitionsgedankenspiele anzustellen und alles Mögliche auszuschließen und einzufordern.
Walter-Borjans: Sowohl Olaf Scholz als auch Saskia Esken und ich sagen ganz klar, dass CDU und CSU auf die Oppositionsbank gehören. In der Corona-Krise haben wir zusammen den Kahn gut über Wasser gehalten. Aber es geht ja auch darum, wohin der Kahn nach der Pandemie schippern soll. Wenn wir Wohlstand und Anstand zusammenbringen wollen in der Wirtschafts-, Finanz- und Umweltpolitik, dann haben SPD und CDU/CSU enorme Differenzen. Das, wofür ich antrete, ist mit CDU und CSU nicht zu machen. Das betrifft etwa die Entschuldung der Kommunen. Die am stärksten vom Strukturwandel gebeutelten Kommunen haben die geringsten Möglichkeiten in Schulen, Infrastruktur, Digitalisierung und Wohnungsbau zu investieren. Das geht nur, wenn wir die tickende Zeitbombe der Altschulden entschärfen. Dafür brauchen wir andere Mehrheiten. Mit diesem Koalitionspartner geht das nicht. Das werden wir auch zum Thema im Wahlkampf machen.
Frau Esken, Sie haben sich immer wieder sehr kritisch über die Teilnehmer an den Corona-Demos geäußert. Wie wollen Sie die Zweifler zurückholen in die politische Mitte?
Esken: Ich kenne auch Zweifler in der eigenen Partei. Mit denen, die Fragen, die Zweifel haben, müssen wir reden – das ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, als Politik. Dann erkläre ich, warum die Corona-Maßnahmen in der Ministerpräsidentenkonferenz vereinbart werden, dass der Bundestag sich nicht etwa entmachtet, sondern seine Rechte gestärkt hat durch das Infektionsschutzgesetz, dass Corona nicht nur eine Grippe ist, sondern gefährliche Langzeitschäden hinterlässt. Aber ich sage auch: Die Zweifel an den Corona-Maßnahmen entbinden einen nicht von der demokratischen Verantwortung, nicht mit Nazis auf der Straße zu marschieren.
Die AfD hat den Corona-Protest in den Bundestag getragen und radikalisiert sich zusehends. Wie stehen Sie zu einem Verbot der AfD?
Walter-Borjans: Ein Verbot ist nicht der richtige Ansatz. Wir müssen uns als gesamte Gesellschaft mit dem zersetzenden rechten Gedankengut auseinandersetzen. Das ist da und wird durch die AfD aktiviert, oft durch gezielte Falschinformationen. Wir müssen Aufklärung betreiben: Dass diese Denkart zwar leichte Rezepte verspricht, die Demokratie aber nur zum Erlangen der Macht missbrauchen will, und dass Deutschland allein in dieser Welt weniger denn je eine bedeutende Rolle spielen kann. Ein Verbot der AfD würde nur die Hülle treffen, nicht die Gedankenwelt dahinter.Esken Durch ein Verbot der AfD würden die rechten Netzwerke nicht verschwinden. Ein Verbot ist in einer offenen Demokratie zudem immer nur das letzte Mittel. Es ist jetzt notwendig, dass die AfD und ihre Netzwerke, auch die internationalen, vom Verfassungsschutz flächendeckend beobachtet werden.
Wer wäre der ideale Gegner für Scholz: Laschet, Röttgen, Merz – oder Söder?
Walter-Borjans: Wir kommen mit jedem klar. Anders als die Genannten überzeugt Olaf Scholz als solider, seriöser, erfahrener und enorm vernetzter Regierungspolitiker. Er gibt den Deutschen die Sicherheit, dass das Land auch in Zukunft gut regiert wird. Da habe ich bei den Anderen meine Zweifel.Esken Die Wähler werden irgendwann realisieren, dass Merkel nicht mehr antritt. Das soll aber möglichst spät passieren. Deswegen wartet die CDU mit der Entscheidung über die künftige Führung so lange ab. Scholz geht mit hohen Zustimmungswerten und mit dem Bonus des Vize-Kanzlers ins Rennen.
Ist das neue Grundsatzprogramm der Grünen ein verkapptes Koalitionsangebot an die Union?
Walter-Borjans: Es fällt auf, dass die Grünen sich auf dem Papier zunehmend hübsch machen für einen konservativen Partner. Bei CDU, Grünen und in den Medien gibt es eine erkennbare Neigung zu einem schwarz-grünen Experiment. Da müssen wir zeigen, dass wir die einzigen sind, die Soziales, Ökonomie und Ökologie zusammenzubringen. Und dass wir die sind, die sich klar gegen eine Politik positionieren, die die Gesellschaft immer weiter auseinandertreibt. Wenn die Grünen dann konservative Positionen beziehen, kann die SPD davon profitieren.
Esken: Ein Grundsatzprogramm ist zunächst mal kein Regierungsprogramm, sondern Ausdruck der politischen Willensbildung einer Partei. Aber selbst ein Wahl- oder Regierungsprogramm stellt das Angebot einer einzelnen Partei dar, die dann im Falle einer Koalition Kompromisse eingehen muss. Wer das nicht klar macht, programmiert die Enttäuschung bei den Wählern. Wer sich aber - wie die Grünen in Baden-Württemberg oder Hessen - im Regierungshandeln von seinen eigenen, auch in der Bundespartei vorgetragenen Grundsätzen verabschiedet, muss auch damit rechnen, die Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Frau Esken, Ihnen wird ein gutes Verhältnis zur Kanzlerin nachgesagt. Was verbindet Sie?
Esken: Frau Merkel hat bei unserem Antrittsbesuch gesagt, ihr Weg an die Parteispitze sei meinem ja nicht ganz unähnlich. Dieser Quereinstieg, das Frausein verbindet. Dass man anfangs unterschätzt wird und wie man dann in die Aufgabe findet. Natürlich gibt es in den Meinungen und Haltungen grundlegende Unterschiede. Das hindert uns aber nicht daran, freundlich und pfleglich miteinander umzugehen.
Ist Frau Merkel die größte Hoffnung der SPD im Wahljahr 2021, da Sie bei der Bundestagswahl nicht mehr antritt?
Esken: Das ist einfach nur ein Fakt. Nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft ist es auch mal gut.
In NRW gibt es einen Zweikampf um die Landesspitze zwischen Amtsinhaber Sebastian Hartmann und Fraktionschef Thomas Kutschaty. Befürchten Sie eine Spaltung der NRW-SPD?
Walter-Borjans: Wenn es Wettbewerb von Kandidaten um Führungsämter in einer Partei gibt, dann ist das kein Schadensfall. Das ist Demokratie und nicht Spaltung. Es muss aber klar sein, dass das Ergebnis einer Abstimmung von der unterlegenen Seite respektiert wird und der Gewinner auch Verantwortung für die Minderheit trägt. Es darf keine Revanchefouls geben. Dieser Wettbewerb muss an dem Tag enden, an dem die Entscheidung gefallen ist. Ich erwarte, dass sich beide Seiten ihrer großen Verantwortung gegenüber der SPD insgesamt bewusst sind. Wir brauchen eine starke NRW-SPD, wenn wir in den kommenden Wahlkämpfen gute Ergebnisse erzielen wollen, und keine Partei, die von in der Zwist und Streit gelähmt wird.
In der Bundes-SPD reißt sich offenbar niemand um die Führung des größten Landesverbands. Warum will den Job niemand haben?
Walter-Borjans: Es wäre schwer, den Landesverband von Berlin aus zu führen. Das gilt für die Aufgabe des Zusammenführens ebenso wie für die wichtige landespolitische Kärrnerarbeit.Die SPD hat alle Chancen, die CDU in NRW zu schlagen. Entweder ist Armin Laschet 2022 in Berlin oder er ist noch da, weil er das Rennen im Bund verloren hat. Beides gäbe der SPD Gelegenheit, ihren Wert für die Zukunftssicherung NRWs unter Beweis zu stellen.
Frau Esken, vor der Bundestagswahl findet im März in Baden-Württemberg auch noch eine Landtagswahl statt. Nordrhein-Westfalen galt lange als die Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie. Welches Körperteil ist Baden-Württemberg?
Esken: Baden-Württemberg ist seit langer Zeit die Diaspora der Sozialdemokratie. Noch sind die Zustimmungswerte einfach schlecht. Ich setze aber große Hoffnung in Andreas Stoch, unseren frisch wiedergewählten Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten. Gerade in der Bildungspolitik läuft es in Baden-Württemberg unter Frau Eisenmann nicht vorwärts, sondern eher zurück in die fünfziger Jahre. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit erfolgreichen Ex-Kultusminister Stoch in der Bildung und mit kostenlosen Kitas punkten können. Auch der Wohnungsmangel ist ein großes Thema, auf dem Land ebenso wie in den Städten. Das sind Probleme, die die Menschen bewegen. Für die hat die SPD die besten Lösungsangebote.
In der SPD (In Baden-Württemberg!) spielt die Autoindustrie eine wichtige Rolle. Warum sollten die Beschäftigen der SPD ihre Stimme geben?
Esken: Die CDU hält die Abwesenheit von Politik für die beste Wirtschaftspolitik. Die SPD steht dagegen für eine aktive Industriepolitik, die Arbeitsplätze für die Zukunft sichert. Wir unterstützen Beschäftigte in der Transformation mit dem Qualifizierungschancengesetz und mit der Verknüpfung von Kurzarbeit und Weiterbildung. Verantwortungsvolle Unternehmenschefs nutzen das und halten ihre Beschäftigten, anstatt sie zu feuern. Vater Bosch hätte das jedenfalls so gemacht.
Walter-Borjans: Wir haben mit dem Konjunkturpaket beides gemacht: Anschub für die Konjunktur insgesamt mit Hilfen für Industrie, Gewerbe und Verbraucher. Und klare Akzente für eine Weichenstellung in die Zukunft. Wo einzelne Branchen vom Steuerzahler unterstützt werden, muss auch Bereitschaft zum Wandel erkennbar sein. Die Autoindustrie tendiert dazu, das, womit sie Gewinne einfährt, durch Optimierung so lange wie möglich zu halten, auch wenn über kurz oder lang eine Sackgasse droht. Der Sprung auf ein neues Feld passiert erst dann, wenn die Politik klare und verlässliche Rahmenbedingungen setzt. Das haben wir gemacht. Beim Autogipfel vor zwei Wochen wurde auch von den Industrievertretern anerkannt, dass die SPD der Treiber war, jetzt klar auf klimafreundliche Transformation zu setzen.
Wie kann die SPD die klassischen Facharbeiter zurückgewinnen?
Esken: Die Industriearbeiter in Baden-Württemberg sind traditionell eher konservativ. Es muss uns gelingen, vermeintlich gegensätzliche Interessen aufzulösen. Mehr Frauen in Führungspositionen sind keine Bedrohung für die Männer, sondern eine Bereicherung. Der Klimaschutz ist eine Chance, durch neue Technologien und neue Geschäftsfelder neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch die Digitalisierung ist nicht der große Jobkiller, sondern sie kann eine große Entlastung sein, zum Beispiel in der Pflege – sie übernimmt die Dokumentation, und die Pflegekräfte haben mehr Zeit für die Menschen.
Walter-Borjans: Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn es ihr gelungen ist, die Arbeiterschaft mit Kultur, Wissenschaft und Sport zusammen zu bringen. So sind die Mehrheiten für Willy Brandt und Gerhard Schröder entstanden. Deswegen brächte es nichts, wenn sich die SPD nur auf einzelne Wählergruppen konzentrieren würde. Wir müssen moderne Volkspartei sein.
Sie sind ein Jahr im Amt. Wie lange wollen Sie Vorsitzende bleiben?
Esken: Wir sind für zwei Jahre gewählt, nicht auf Lebenszeit. Aber wir sind beide in einem Lebensalter, in dem man noch Perspektiven hat. Wir haben jetzt mit Olaf Scholz, Rolf Mützenich und Lars Klingbeil ein gutes Team, das über den Tag hinaus Bestand haben sollte.
Walter-Borjans: Mit einem Jahr Amtszeit haben wir schon manche Vorgänger hinter uns gelassen. Unser kooperativer Führungsstil fand an der Basis von Anfang an viel Unterstützung und hat in Berlin erkennbar Respekt gewonnen. Es hat sich schon einiges geändert, aber es muss sich auch noch einiges ändern. Allein davon und nicht von Amtszeitplänen hängt es ab, wie lange es Sinn und auch die nötige Freude macht und ob man auch die Partei dafür begeistern kann.
Das Interview erschien zunächst in der Stuttgarter Zeitung, den Stuttgarter Nachrichten und dem Kölner Stadt-Anzeiger.