Als der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im ausgehenden 20. Jahrhundert das „Ende der Geschichte“ ausrief, schien die westliche Welt mit sich im Reinen. Demokratie, Rechtsstaat und (soziale) Marktwirtschaft galten als Garanten für wachsenden Wohlstand und soziale Sicherheit. Universell gültige Menschenrechte und die globale Kooperation freier Staaten bildeten die Pfeiler einer Ordnung, die langfristig Frieden und Fortschritt sichern sollte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht dieses westliche Zivilisationsmodell an einem historischen Scheidepunkt. Seine Gegner haben sich neu formiert. Es wird höchste Zeit, die terroristischen, rechtspopulistischen und identitären Bewegungen und Parteien als das zu benennen, was sie sind: Eine Bedrohung für die westliche Welt, ein autoritär-reaktionärer Gegenentwurf zur liberalen Demokratie.
Wir selbst entscheiden
Dabei scheint für viele klar, dass die größte Bedrohung für die westliche Zivilisation von außen kommt. Die Serie der heimtückischen Attentate in westlichen Städten sowie die nicht enden wollende Gewalt, die der IS verbreitet, sind Angriffe auf unsere Art zu leben. Aber wir sollten nicht vergessen: Die Feinde der offenen Gesellschaft können unsere Art zu leben verachten, unsere Kultur verdammen und sie können uns sogar an Leib und Leben angreifen. Aber unsere Ideale liegen außerhalb ihrer Reichweite. Nur wir selbst sind es, in unseren Reaktionen und Handlungen, die über den freiheitlichen Charakter unserer Gesellschaft entscheiden. Deshalb sollten wir sehr genau hinsehen, wenn nach einem Amoklauf die Forderung nach einer Ausweitung von Bundeswehreinsätzen im Inneren und einer Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft laut wird. Wir sollten uns in Momenten der Verunsicherung und Angst an die Worte des damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Norwegens Jens Stoltenberg erinnern, als er vor fünf Jahren als Reaktion auf die Attentate von Utøya und Oslo sagte: „Unsere Antwort wird mehr Demokratie sein, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit. Aber nie Naivität.“
Die Gegner sind nur so stark, wie wir sie sein lassen
Ohne Naivität die Gefahren für unsere Demokratie zu analysieren und angemessen auf sie zu reagieren, das sollte unsere Richtschnur sein. Das gilt für die Reaktion auf Amokläufe oder Attentate genauso wie für den Umgang mit Rechtspopulisten. Denn sie sind die noch größere Gefahr für unsere Demokratie, weil sie von innen kommt. Ihr Ziel ist das Ende der offenen Gesellschaft, wie wir sie heute haben. Von dem ehemaligen Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt der Satz, dass unser freiheitlich demokratischer Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Kein moderner Rechtsstaat besteht ohne die demokratische Gesinnung seiner Bürgerinnen und Bürger, ohne eine Kultur der Toleranz und des Respekts voreinander. Rechtspopulisten nagen an diesen Voraussetzungen, sie wollen unsere demokratische Kultur aushöhlen. Sie tun das permanent, indem sie die politische Debatte durch Falschbehauptungen, Beleidigungen und kalkulierte Grenzüberschreitungen beschädigen. Sie tun es auch, indem sie Sprachbilder prägen, die von Politikern und Medien gedankenlos übernommen werden. Sprache prägt aber unsere Wahrnehmung. Die Rede von Flüchtlingsströmen oder -lawinen aktiviert die Angst vor Naturkatastrophen, die Rede von "Altparteien" lässt an eine aussterbende Spezies denken und mit dem permanenten Verweis auf „das Volk“ versuchen die Rechten, eine radikale Minderheitenposition zur legitimen Mehrheitsmeinung zu machen. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, der kann nur verlieren. Andersherum heißt das aber auch, dass wir es selbst in der Hand haben. Die Gegner der Demokratie sind nur so stark, wie wir sie sein lassen.
Die Feinde der freiheitlichen Demokratie formieren sich
Noch gefährlicher wird die Situation dadurch, dass es sich bei den Rechtspopulisten längst nicht mehr nur um Einzelfälle handelt. In den USA hat ein nationalistischer Multimillionär der offenen Gesellschaft den Kampf angesagt. In Russland versucht sich Vladimir Putin an einem autoritären Superstaat, der weltweit den Rechtsideologen als Vorbild gilt. Und in vielen Ländern Europas, in Frankreich, den Niederlanden, Österreich und auch Deutschland formieren sich nationalistische und identitäre Bewegungen mit einem gemeinsamen Feind: der freiheitlichen Demokratie. Sie haben sich in einer Art nationalistischen Internationalen verbündet und versuchen, die Deutungshoheit darüber zu erringen, was als erstrebenswertes System gilt. Das ist die neue Qualität der rechtspopulistischen Bedrohung.
Freiheit ist nie sicher
Freiheit ist – anders als es Fukuyma prognostizierte – nie sicher. Das gilt in doppelter Hinsicht. Freiheit bedeutet erstens auch Ungewissheit, Unkalkulierbarkeit und Risiko. Wir wissen in einer freien Demokratie nicht, wer die nächsten Wahlen gewinnen wird. Wir können in einer freien Marktwirtschaft nicht absehen, welches Produkt der nächste Verkaufsschlager wird. Niemand kann in einer freien Forschungslandschaft voraussagen, auf welchem Gebiet der nächste wissenschaftliche Durchbruch kommt. Und wir können in einer freien Gesellschaft auch nicht vollends verhindern, dass Einzelne Kriminalität, Amok oder Terror ausüben. Wir haben unsere freiheitlichen und rechtsstaatlichen Mittel, um den Freiheitsmissbrauch zu verhindern: Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte.
Ohne Freiheit ist Sicherheit nichts
Freiheit ist noch in einem weiteren Sinn nie sicher: Sie ist nie endgültig errungen. Wir müssen sie jeden Tag bewahren und immer wieder vor Angriffen schützen. Natürlich enthält Freiheit auch Zumutungen, beispielsweise auszuhalten, was man selbst nicht für richtig oder erstrebenswert hält, sei das ein anderer Lebensentwurf oder eine politische Meinung, die von der eigenen stark abweicht. Aber all jene, die versprechen, Freiheit sei ohne gewisse Zumutungen zu haben, der irrt. Es gibt keine halbierte Freiheit. Wer im Namen der Freiheit die Prinzipien der offenen Gesellschaft beschädigt, betreibt das Geschäft der autoritären Feinde der Aufklärung und der Gegner der Demokratie.
Freiheit ist das Gegenteil von Kalkulierbarkeit, nicht von Sicherheit. Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze und Sicherheit geht nicht vor Freiheit. Freiheit ist alles. Die Sicherheit muss ihr dienen. Ohne Freiheit ist Sicherheit nichts. Deshalb wählen wir die Freiheit.
Der Namensbeitrag erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 13. August 2016.