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1933 | Selbstmord von Toni Pfülf

Foto: Antonie Pfülf, um 1920, Fotografie von Philipp Kester
Münchner Stadtmuseum

8. Juni 1933
Eine der tapfersten Frauen Deutschlands flieht in den Tod

"Es geht jetzt nur noch darum, den Widerstand zu organisieren!" Energisch wie immer, aber zunehmend am Rand der Verzweifelung versucht Antonie Pfülf, ihre Genossen davon abzuhalten, noch einmal den Reichstag zu betreten. Sie setzt sich nicht durch.

Es ist der 16. Mai 1933. Hitler ist seit gut 100 Tagen Reichskanzler. Er nutzt seine Macht rücksichtlos, jeden Kritiker mundtot zu machen. Der Essener SPD-Reichstagsabgeordnete Julius Rosemann wird am 2. Mai verhaftet und brutal misshandelt. Noch im Gefängnis, bringt er sich um. Am 4. Mai.

Am 16. Mai diskutieren die letzen noch in Freiheit und im Land lebenden SPD-Abgeordneten,  ob sie am nächsten Tag noch einmal in den Reichstag gehen oder nicht. Hitler will eine "Friedensrede" halten. Die Mehrheit der SPD-Abgeordneten will darin eine Chance sehen, den Diktator auf einen Kurs der Mäßigung zu bringen. Die emigrierte Parteiführung und Antonie Pfülf – die alle Toni  nennen – sehen das anders. Sie halten das für einen Propagandatrick der Nazis. Toni Pfülf ruft ihren Abgeordnetenkollegen vergeblich zu:

"Wir haben nicht gelernt, gegen Terror anzukämpfen. Wir müssen es lernen. Wir müssen neue Wege des Kampfes suchen. Es gibt in Deutschland keine Rechtsstaatlichkeit mehr. Die Republik ist zerschlagen. Und sie wird nicht gerettet, wenn wir so tun, als habe sich nichts geändert."

Mit Vehemenz und Leidenschaft

Sieben Mal ist Toni Pfülf in den Reichstag gewählt worden, von den Wählern ihrer bayerischen Heimat. In München wird sie von vielen Menschen verehrt, seit sie während des Ersten Weltkriegs in der Stadt die Armen- und Waisenpflege organisiert hat. Jeder, der ihr begegnet, ist von ihrer Energie beeindruckt. Männliche Kritiker sagen ihr eine "überzogene Vehemenz und Leidenschaft" nach.

Diese "Vehemenz" bekommen zunächst Tonis Eltern zu spüren. Vater Emil ist Offizier, die Mutter steht dem bürgerlichen Haushalt vor. So "gehört es sich" im Kaiserreich. 

Die 1877 geborene Antonie besucht die Höhere Mädchenschule und beschließt, zum Entsetzen der Eltern, einen Beruf zu ergreifen. Viele Möglichkeiten bieten sich einer Frau in Bayern nicht. Antonie wird Lehrerin. 1902, als sie in den Schuldienst eintritt, kommt es zum endgültigen Bruch mit den Eltern. Denn Toni Pfülf bekennt sich als Sozialdemokratin.

Foto: Gruppenaufnahme mit weiblichen Mitgliedern der SPD-Reichstagsfraktion 1925
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Antonie Pfülf und weitere weibliche Mitglieder der SPD-Reichstagsfraktion 1925

Gleiches Recht auf Bildung für Alle!

Die SPD ist die einzige Partei, die das Wahlrecht für Frauen fordert. Ihr Vorsitzender August Bebel ist mit seinem Werk "Die Frau und der Sozialismus" ein Bestseller gelungen.

Toni Pfülf wird zur entschiedenen Frauenrechtlerin – und in den 1920er Jahren zur Vorkämpferin einer Schulpolitik, die allen Kindern gleiche Chancen eröffnet; reichen wie armen, Mädchen wie Jungen.

Die Wirklichkeit im Kaiserreich ist davon weit entfernt. Lehrerinnen haben den Schuldienst zu quittieren, wenn sie heiraten. Auf politischen Versammlungen haben Frauen nichts zu suchen. Um das Verbot zu umgehen – und ad absurdum zu führen - , hält Toni Pfülf 1905 eine Rede in Männerkleidung.

Als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Monarchie überall im Reich Arbeiter- und Soldatenräte zusammentreten, geht Toni Pfülf einfach hin. In München. Als einzige Frau. Die männlichen Revolutionäre verweigern ihr das Mitspracherecht:

"Der Sitzungsleiter Erich Mühsam fordert Toni Pfülf auf, die Sitzung zu verlassen. Sie wehrte sich entschieden und rief aus: "Man kann mich nur mit Gewalt aus dem Sitzungssaal befördern, denn ich habe hier im Arbeiter- und Soldatenrat die Interessen der Frauen zu vertreten!"

Gegen den Zölibat der Lehrerinnen

Dafür entsendet die SPD sie 1920 in die Weimarer Nationalversammlung. Dort setzt sie sich dafür ein, dass die Verfassung der neuen, der ersten deutschen Republik Männer und Frauen für gleichberechtigt erklärt. Die überwältigende - männliche - Mehrheit weicht die Formulierung noch auf. Erst 1949 wird sich durchsetzen, was Toni Pfülf schon 1920 für zweifelsfrei richtig hält.

Immerhin: Unter sozialdemokratischer Führung erhalten Frauen volles Wahlrecht. Und Toni Pfülf vor allem ist es zu danken, dass 1920 der "Lehrerinnen-Zölibat" fällt – doch andere Mehrheiten werden ihn rasch wieder einführen. In der Bundesrepublik gilt das Eheverbot für Lehrerinnen noch bis 1951, im Bundesland Baden-Württemberg gar bis 1956.

Toni Pfülf wird zur führenden Schul- und Frauenpolitikerin ihrer Partei. Maßgeblich wirkt sie daran mit, dass es im Heidelberger Programm der SPD von 1925 heißt:

"Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Aufhebung des Bildungsprivilegs der Besitzenden…" Sie fordert die "gemeinsame Erziehung beider Geschlechter durch beide Geschlechter" und die "Gleichstellung der Frau mit dem Mann".

Die Nazis schlagen ihr Lebenswerk zu Trümmern

Toni Pfülf fordert die Abschaffung des Schulgelds und die Einführung einer sechsjährigen Gemeinschaftsschule.

Mit Beginn der 1930er Jahre muss Toni Pfülf erleben, wie vieles, wofür sie mit all ihrer Kraft gekämpft hat, verhöhnt, verspottet und schließlich aufgegeben wird. Der Aufstieg der NSDAP ist ihr ein Graus:

"Im Januar 1932 hielt der SPD-Ortsverein Weiden in der Oberpfalz, wie die Weidener Polizei akribisch notierte, eine öffentliche Versammlung mit der Rednerin Toni Pfülf aus München ab unter dem Titel "Wie lange noch Hitlerzirkus?"  Der Polizei-Oberkommissär protokollierte weiter: "Die Rednerin wandte sich in einstündigem Vortrag scharf gegen den Nationalsozialismus. […] Die ganze Rede der Referentin war eine Kampfansage an den Nationalsozialismus."

Am 23. März 1933 zählt Toni Pfülf zu den 94 SPD-Abgeordneten, die Hitler im Reichstag die Stirn bieten und "Nein" sagen zu dessen "Ermächtigung", das Parlament zu umgehen und diktatorisch zu regieren. Am Tag danach verschärft sich der Terror.

Emigration kommt für sie nicht in Frage

Toni Pfülf hilft dem befreundeten Ehepaar Breitscheid noch zur Flucht in die Schweiz. Sie selbst will nicht emigrieren. Lieber wählt sie den Tod. Schon am 17. Februar formuliert sie eine Todesanzeige, die im "vorwärts" und anderen SPD-Zeitungen erscheinen soll:

"T.P. ist am … heimgegangen. Sie hat das Leben und ihre Freunde geliebt und war ihnen dankbar. Sie ging mit dem sicheren Wissen von dem Sieg der großen Sache des Proletariats, der sie dienen durfte. München, 17. Februar 1933 – Toni Pfülf"

Die Anzeige wird nie erscheinen, denn kaum sind die Nazis an der Macht, untersagen sie den Druck kritischer Blätter.

Die erste Freiheit, die ihrem Terror zum Opfer fällt, ist die Freiheit des Wortes und der Presse. 

"Das Banner bleibt stehen…"

Am 8. Juni macht Toni Pfülf ihre Ankündigung wahr. Sie schluckt eine Überdosis Schlaftabletten. Die Nazis lassen keine Trauerfeier zu. Sie wollen jede Erinnerung an eine tapfere Frau auslöschen, die sie lächerlich gemacht hat. 

Einem Freund, dem SPD-Landtagsabgeordneten Alfons Bayerer, hinterlässt sie einen Abschiedsbrief:

"Lieber Alfons, ich bitte dich, unseren Freunden meinen letzten Gruß zu bestellen. Sie sollen den Mut nicht sinken lassen. Das Banner bleibt stehen, wenn der Mensch auch fällt. (...) Den Weg, den die Partei heute geht, kann ich nicht mitgehen. Ich sterbe im Glauben an die sozialistische Zukunft Deutschlands und der Welt. Freiheit! Toni Pfülf."

Die BayernSPD vergibt heute alle zwei Jahre den Toni-Pfülf-Preis an tapfere Frauen. Doch Toni Pfülfs Forderung nach der Abschaffung aller Bildungsprivilegien ist noch immer nicht erfüllt. Noch und wieder entscheidet vor allem die Herkunft über das schulische Schicksal und den Platz in der Gesellschaft. Besonders in Bayern.