Meinen Migrationshintergrund erkennt man auf den ersten Blick nur an meinem Nachnamen. Ich bin in Köln geboren und habe dort meine gesamte Kindheit und Jugend verbracht. Als Tochter eines Briten und einer Deutschen sieht man mir die ausländischen Wurzeln nicht an. Und die Kulturkreise, aus denen meine Eltern stammen, unterscheiden sind nicht einmal grundsätzlich. Dennoch haben meine beiden Staatsangehörigkeiten sich auf mein Leben ausgewirkt. Im täglichen Leben, aber auch in meinen Grundeinstellungen. Insofern ist meine Migrationsgeschichte vielleicht typisch für die vieler Menschen in diesem Land.
Mein Nachname, der fällt durchaus auf. Und man kann ihn auf unterschiedliche Weise aussprechen. Schätzungsweise 80 Prozent aller Gesprächspartner verwenden die deutsche Fassung (das „ey“ wie „ei“). Es wurde mir schnell lästig, ständig zu verbessern, und ich habe mich daran gewöhnt. Hätte ich gewusst, welche Wellen dieses Versäumnis schlagen würde, hätte ich meinen Parteivorsitzenden vor der Pressekonferenz zu meiner Nominierung als Generalsekretärin auf die korrekte Aussprache hingewiesen. So müssen wir jetzt beide damit leben, dass dieser Fauxpas in beinahe jedem Artikel auftaucht, in dem wir beide erwähnt sind. Das wiederum hat mir aber zu einer ausgezeichneten Eselsbrücke verholfen. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, Petra Sitte, meinte später zu mir: „Ist doch ganz einfach: Barley wie Harley.“
Barley bedeutet „Gerste“
Dieser Nachname passt durchaus zur Herkunft meiner Familie väterlicherseits, denn er bedeutet „Gerste“. Die Familie meines Vaters betrieb eine sehr kleine Farm. Elektrizität gab es nicht, Butter wurde im Butterfass gemacht, und als einziger Sohn musste er viel mit anpacken. Gleichzeitig war er ein sehr begabtes und wissbegieriges Kind. Die Schule war am Ende der Dorfstraße, ein kleiner Bau mit einem einzigen Raum. Etwa 20 Kinder zwischen fünf und 13 Jahren wurden von einer Lehrerin unterrichtet. Schwer vorstellbar, aber offenbar gelang es Miss Parker, sein Talent zu entdecken und zu fördern. Später, auf der weiterführenden Schule, erhielt er ein Stipendium für ein Studium an einer Universität seiner Wahl. Und er bewarb sich an einer der ganz Großen, in Cambridge. Die schriftlichen Aufnahmeprüfungen bestand er alle. Aber in der mündlichen, eher als Formsache angesehen, wurde er abgelehnt. Die Familienlegende besagt, es habe daran gelegen, dass er eben doch ‚nur’ ein Bauernsohn gewesen sei. Nicht von der richtigen Schule, nicht der richtige Akzent, nicht die richtige Kleidung, nicht die richtigen Umgangsformen. Ob das wirklich der Grund war, wird sich nie nachprüfen lassen. Aber es führte im Familienrat dazu, dass den britischen Unis ganz der Rücken gekehrt wurde. Frankreich oder Deutschland standen zur Wahl, denn das Stipendium galt auch für das Ausland. Beide Sprachen hatte mein Vater gelernt, für einen Briten durchaus ungewöhnlich. Den Ausschlag gab wohl, dass er seinen Militärdienst auf Sylt absolviert hatte. Und so ging er nach Deutschland, mit einem Koffer, 20 britischen Pfund und dem Stipendium. Erst nach Hannover, dann nach Berlin, wo sich meine Eltern kennenlernten und heirateten.
Soziale Gerechtigkeit hat mich zur Sozialdemokratie hingezogen
Diese Familiengeschichte hat Spuren bei mir hinterlassen. Zugegeben, sie ereignete sich in den sechziger Jahren, und seitdem hat sich einiges getan. Aber das britische Bildungssystem ist immer noch ausgesprochen elitär, und es gibt eine deutliche Abstufung der verschiedenen Schulen und Hochschulen. In Frankreich, wo ich ein Austauschjahr verbrachte, findet sich eine solche Klassengesellschaft eher im Hochschulbereich. Fast alle Spitzenpolitiker und wichtigen Funktionäre haben an derselben Eliteuniversität studiert, der Ecole Nationale d’Administration. Das hat nicht nur eine soziale Selektion zur Folge, sondern produziert auch eine geschlossene Machtelite. Beides halte ich für ungesund. In Deutschland sind wir auch noch nicht so weit, wie wir sein sollten. Noch immer hängt der Bildungserfolg nicht nur von Talent und Fleiß, sondern von der Herkunft der Eltern ab. Aber wir sind auf einem guten Weg, vor allem aufgrund engagierter Bildungspolitik. Dieses Ziel hat mich immer schon zur Sozialdemokratie hingezogen. Ihre Wurzeln vor über 150 Jahren liegen im Recht auf Bildung, auch für Menschen, die man heute „bildungsferne Schichten“ nennen würde. In Deutschland hätte mein Vater hoffentlich auch auf die renommierteste Universität gehen können.
Meine Mutter wiederum war ein Flüchtlingskind, geboren 1940. Ihr Vater war Ingenieur in der Automobilindustrie. Als kriegswichtig eingestuft, bewahrte ihn sein Beruf davor, in den Krieg ziehen zu müssen. Die Familie hatte im Osten Deutschlands in relativem Wohlstand gelebt. Als die Rote Armee näherkam, packten sie – wie so viele andere – die Koffer und machten sich auf den Weg Richtung Westen. Die Mutter hochschwanger, zwei kleine Kinder an der Hand. Sie passierten Dresden einen Tag nach den verheerenden Bombardierungen durch die britische Armee. Ihr Hab und Gut, das vorausgeschickt worden war, wurde ein Raub der Flammen. Aber die Familie kam – anders als viele Tausend andere – mit dem Leben davon.
Das Grauen des Krieges
Die Tatsache, dass es britische Bomber waren, die Dresden bombardierten und fast die Familie meiner Mutter ausgelöscht hätten ist ein Umstand, der mich tief geprägt hat. Mein Vater, Jahrgang 1935, stammt aus Lincolnshire, einer ländlich geprägten Region Mittelenglands. Ganz in der Nähe seines Heimatortes liegt die einzige Basis der Royal Air Force, in der Piloten ausgebildet wurden. Er liebte es als Kind, die Flugzeuge zu beobachten, die von dort aufstiegen. In den Kriegsjahren zählte er die Bomber, die Richtung Deutschland starteten. Noch heute kann er sich, so sehr er den Krieg ablehnt, für die Technik und Ästhetik dieser alten Flieger begeistern.
Die Vorstellung, dass eine dieser Maschinen nur einen Tag später womöglich seine spätere Frau getroffen hätte, macht das Grauen des Krieges für mich greifbarer. Ich gehöre ja zu einer Generation, die Krieg zu unser aller großen Glück nie erlebt hat und hoffentlich nie erleben wird. Je weiter die kollektive Erinnerung aber zurückliegt, umso weniger können sich gerade junge Menschen vorstellen, was Krieg wirklich bedeutet. Dass jetzt Jugendliche und junge Erwachsene in die brutale Welt des sogenannten IS eintreten und gegen alles Menschliche kämpfen, erschüttert mich zutiefst. Die Berichte mancher Rückkehrer sprechen von der harten Ankunft in der Realität des Krieges. Leider auch manche Videos, die erst öffentlich werden, wenn dieser Wahnsinn schon das Leben ihrer Verfasser gekostet hat.
Eine der schwierigsten Entscheidungen
Aber noch eine andere Frage drängt sich mir aus dieser Familiengeschichte besonders auf. Wie stehe ich zu bewaffneten Einsätzen grundsätzlich? Eine der elementaren Fragen, die sich jede und jeder Bundestagsabgeordnete immer wieder stellen muss. So kritikwürdig die Bombardierung Dresdens in Ausmaß und Zeitpunkt gewesen sein mag, so furchtbar die Zivilbevölkerung gelitten hat – Hitlerdeutschland von außen mit Waffengewalt zu bekämpfen, war notwendig. Es brauchte das militärische Eingreifen ausländischer Armeen, um Deutschland von diesem verbrecherischen Regime zu befreien. Deshalb kann ich mich auch nicht als radikale Pazifistin bezeichnen. Eine der schwierigsten Entscheidungen für mich war die Frage, ob wir die kurdischen Peschmerga für ihren Kampf gegen den IS mit Waffen ausstatten sollten. Die Risiken lagen klar zutage: Die Waffen könnten für andere Zwecke verwendet werden oder in falsche Hände gelangen. Die Peschmerga selbst könnten, während oder nach dem Konflikt, Dinge tun, mit denen wir nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Andererseits waren die Peschmerga die einzigen, die den Schlächtern des IS vor Ort etwas entgegenzusetzen hatten. Die sich nicht nur um ihre eigenen Interessen kümmerten, sondern auch andere Betroffene schützten. Und die ohne unsere Waffen keine Chance gegen den übermächtigen Gegner gehabt hätten.
Vor solchen Entscheidungen schläft man nicht gut, und man weiß oft erst sehr viel später, ob sie richtig waren, oder zumindest das kleinere Übel. Aber man muss sie treffen – auch das Nichtstun hat Konsequenzen. Aus derzeitiger Sicht halte ich es für richtig, zugestimmt zu haben. Ich respektiere jede andere Meinung. Aber ich verabscheue es, wenn man einerseits in sozialen Netzwerken die Peschmerga dafür bejubelt, den IS zurückgedrängt zu haben, und andererseits den Beschluss des Bundestages mit Vehemenz und Polemik kritisiert. Das ist zutiefst heuchlerisch, denn ohne ausländische Waffen hätten sie es nicht schaffen können. Ich hätte auch lieber eine Welt ohne Krieg. Und ich hätte es auch lieber, wenn ich nicht vor solche Entscheidungen gestellt würde. Aber wenn es Situationen gibt, denen man auch mit Gewalt entgegentreten muss, dann ist es unsere Aufgabe, uns dieser Verantwortung zu stellen.
Mein Vater hat in England, abgesehen von den startenden Flugzeugen, kaum etwas vom Krieg mitbekommen. Ganz anders meine Mutter. Über mehrere Stationen der Flucht kam ihre Familie schließlich nach Lüneburg, wo sie zunächst zu sechst in zwei Zimmern lebten. Die Großmutter brachte die Familie mit ihrer Pension als Beamtenwitwe über die Runden. Für mich war lange ein Rätsel, wie unterschiedlich die beiden Töchter der Familie mit diesen Erfahrungen umgegangen sind. Meine Tante, die fünf Jahre Ältere, gab mir kürzlich die Erklärung: Sie selbst hatte die Zeit als Tochter einer angesehenen Familie noch bewusst erlebt. Sie war ein Kind unter Gleichen gewesen und hatte das mit ihren zehn Jahren auch so wahrgenommen. Meine Mutter hingegen wurde schon in eine unsichere Zeit hineingeboren. Als sie zur Schule kam, war sie in erster Linie „Flüchtling“. Mit Schuhen, die zu klein oder zu groß waren, Kleidung, die sie sofort als arm auswies. Sie war Außenseiterin, willkommen fühlte sie sich dort nicht.
Jeden Menschen als Individuum betrachten
Auch wenn ich diese Zeit nur aus Erzählungen kenne – in Begegnungen mit den Flüchtlingen, die heutzutage zu uns kommen, frage ich mich immer: Was waren diese Menschen wohl, bevor sie sich auf den Weg machten? Sie waren Kinder, Geschwister, Eltern. Aber auch Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen. Sie hatten ein Leben, das sie aufgegeben haben. Das bedeutet nicht, dass deswegen jeder ein guter Mensch ist, der hierherkommt. Aber es zwingt mich, jeden Menschen als Individuum zu betrachten und nicht „den Flüchtlingsstrom“ als anonyme Masse. Und es bewegt mich schon, wenn ältere, oft ganz konservative Einheimische sich um einzelne Flüchtlinge kümmern, sie sogar in ihrem Haus aufnehmen. Weil sie selbst einmal geflohen sind und eine Ahnung davon haben, wie sich das anfühlt. Bei Null anzufangen, misstrauisch beäugt zu werden.
Dieses Schicksal ist meiner Generation und der unserer Kinder bisher erspart geblieben und dafür bin ich sehr dankbar. Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Meine Eltern zogen von Berlin nach Köln, wo mein Vater eine Stelle bei der Deutschen Welle erhalten hatte. Dort wurde ich geboren, und obwohl ich nun schon fast dreißig Jahre nicht mehr dort lebe, bin ich vom Temperament her immer Rheinländerin geblieben. Jahrzehntelang war ich übrigens felsenfest überzeugt, von Geburt an beide Staatsangehörigkeiten besessen zu haben. Erst als ich mit dem Einzug in den Bundestag einen Diplomatenpass beantragte, wurde mir bewusst, dass das nicht stimmte. Eine freundliche Dame vom Auswärtigen Amt rief an und bat um eine Kopie meiner Einbürgerungsbescheinigung. Auf meine Erwiderung, die gäbe es nicht, blieb sie hartnäckig: Kinder meines Jahrgangs mit deutscher Mutter und ausländischem Vater hätten erst Jahre später die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben können. Aber, so meinte sie beruhigend, das sei letztendlich kein Problem: Sollte sich diese Frage nicht klären lassen, hätte ich die deutsche Staatsangehörigkeit jedenfalls „ersessen“ (!), weil mich der deutsche Staat seit mehr als zehn Jahren als Deutsche behandelt habe.
England und Deutschland sind Teil meiner Identität
Das hat mich erst mal umgehauen. War die Abstammung meiner Mutter weniger wert als die meines Vaters? Die Alternative, einen deutschen Pass „ersessen“ zu haben, war für mich als Juristin wenig tröstlich – es bedeutet schließlich, ein Recht durch Zeitablauf zu erhalten, das einem eigentlich nicht zugestanden hat. Am Ende klärte sich alles auf, meine Mutter fand das Dokument im Familienordner. Es war tatsächlich so, dass ich die ersten Jahre meines Lebens ‚nur’ Britin war und erst auf Antrag in einer gesetzten Frist Deutsche wurde. Ich gebe zu, dass ich eine Weile daran zu knabbern hatte – schließlich habe ich mich Deutschland immer näher gefühlt als England, wo ich nie gelebt habe. Aber beides ist Teil meiner Identität, weshalb ich froh bin, beide Staatsangehörigkeiten zu haben. Am Ende bin ich heute allerdings vor allem Europäerin, was mit meinem späteren Lebensweg zu tun hat.
Zunächst kam aber die Schulzeit. In Köln waren damals noch britische Soldaten stationiert, weshalb es für deren Kinder entsprechende Bildungseinrichtungen gab. Ich habe zwar eine ‚normale’ deutsche Schullaufbahn absolviert, bin aber sehr dankbar, dass ich vorher noch den englischen Kindergarten und die englische Schule besuchen durfte. So lernte ich das Alltagsenglisch, das mein Vater mit mir sprach, früh lesen und schreiben. Wie wertvoll das war, habe ich erst später zu schätzen gelernt, als ich in der Schule ‚positiver Diskriminierung’ begegnete. Meine Englischlehrerin in den ersten zwei Jahren des Gymnasiums bemerkte natürlich schnell, dass ich fließend Englisch sprach und befreite mich daraufhin vom Vokabellernen. Für mich bequem, aber fatal. Mein Akzent war einwandfrei, und ich konnte mich gut ausdrücken. Aber natürlich beherrschte ich nur den Wortschatz, den man in der Familie so benutzt. Sobald es um etwas ging, was sich davon entfernte, war ich ziemlich blank. Also lernte ich bald freiwillig, denn im Englischunterricht Fehler zu machen, war ja für mich doppelt peinlich – und blieb es bis zum Ende der Schulzeit.
Paris - Das hörte sich toll an
Ob es der internationale Anteil in meiner Familie ist – neben dem britischen Teil gibt es noch Verwandte, die vor Jahrzehnten in die USA und nach Australien ausgewandert sind –, weiß ich nicht, aber für mich war immer schon klar, dass ich auch mal im Ausland leben wollte. Das Studium bot dazu die Chance. Meine Heimatuniversität Marburg kooperierte mit einer der vielen Pariser Universitäten. Das Austauschprogramm war gerade erst im Aufbau, und so bewarben sich auf die sechs Plätze nur sechs Personen. Mein Glück, denn mein Französisch war zu diesem Zeitpunkt nicht besonders gut. Die französischen Austauschstudierenden in Marburg nahmen uns gleich unter ihre Fittiche, auch sprachlich. Trotzdem war es erst mal hart, als junger Mensch in eine Alltagswelt geworfen zu sein, in der man kaum einer normalen Unterhaltung folgen kann. Ein sechswöchiger Crashkurs an der Alliance Française verfehlte seine Wirkung nicht, und mit der Zeit klappte es gut. Wir merkten zwar schnell, warum die französischen Jungs und Mädels ihre Zeit in Deutschland so genossen hatten. In Frankreich war das Studium schon damals viel verschulter als bei uns und bei weitem nicht ‚die schönste Zeit des Lebens’. Aber es war eine großartige Erfahrung. Auch das Studium gelang, neben der Sprache und den bestandenen Prüfungen hatte ich am Ende viel über das Land gelernt, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Paris, das hörte sich toll an. Am Ende war es Paris XI, Ortsteil Sceaux, sehr weit draußen. Endstation der RER und dann noch weiter mit dem Bus. Da wir während der Vorlesungszeiten viel arbeiten mussten, blieben wir häufig in unserem Wohnheim und der Umgebung. Unter den insgesamt 15 Erasmus-Austauschstudierenden aus vier Ländern gab es engen Kontakt, wir unternahmen viel zusammen, natürlich auch mit unseren französischen Kommilitoninnen und Kommilitonen. So blieb es nicht aus, dass Freundschaften und Beziehungen geschlossen wurden, die unterschiedlich lange hielten.
Sprache prägt das Bild eines Menschen
Mein Interesse richtete sich bald auf den Senior unserer Gruppe, Teil der spanischen Delegation. Als das Jahr zu Ende ging, stellte sich die Frage, wie es mit uns weitergehen sollte. Er war fertig mit dem Jurastudium, ich noch nicht, außerdem waren die Jobaussichten in Spanien schon damals eher dürftig. Also fiel die Entscheidung, dass er nach Deutschland kommen sollte. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, versteht sich. Und ich stellte zum ersten Mal fest, wie stark Sprache das Bild eines Menschen prägt. War er in Paris noch der Erfahrenste von uns gewesen, der die französische Sprache mühelos beherrschte, eloquent und bereit, Verantwortung zu übernehmen, so war er jetzt im Wortsinne sprachlos und von mir abhängig. Und ich stellte fest, wie kurz der Weg ist, aus dem mangelnden Ausdrucksvermögen eines Menschen zu schließen, er verstehe nichts von den Dingen. Auch diese Erfahrung begegnet mir jetzt wieder, wenn ich mit Flüchtlingen zu tun habe. Wie viele Menschen sie für ungebildet oder gar dumm halten, nur weil sie unsere Sprache nicht sprechen. Wer das einmal selbst erlebt hat, vergisst es nicht.
Es war der Beginn vieler Sprachkurse, Aufbaustudien, Aushilfsjobs – und vor allem vieler Behördengänge. Wir mussten alle drei Monate zum Ausländeramt, um die Aufenthaltserlaubnis zu erneuern. Spanien war damals noch nicht Vollmitglied der EU. Wir waren immer bei derselben Sachbearbeiterin, ich sehe Gesicht und Namen noch vor mir. Sie behandelte uns mehr oder weniger wie Bittsteller und war ausgesprochen unfreundlich. Nun entstammte auch mein späterer Mann einer binationalen Ehe, seine Mutter war Niederländerin. Irgendwann kam bei uns die Frage auf, ob er nicht auch Anrecht auf einen niederländischen Pass hätte. Damit wäre die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht mehr alle drei Monate nötig gewesen. So war es, und er erhielt den Ausweis relativ schnell und unproblematisch. Mit diesem Dokument erschienen wir nun also wieder auf dem Amt. Bei derselben Sachbearbeiterin. Ob sie uns erkannte oder nicht, sie war jedenfalls wie ausgewechselt. Freundlich und zuvorkommend, sogar interessiert. Für sie gab es offensichtlich verschiedene Kategorien von Ausländern, erwünschte und suspekte. Auch eine prägende Erfahrung.
Europa zusammenhalten
Unsere Kinder haben also vier Großeltern aus vier unterschiedlichen Ländern. Ich finde das großartig, denn so ist ihr Horizont weit. Sprachlich, kulturell, kulinarisch, in vielerlei Hinsicht. Dabei sind es ja alles europäische Staaten, die vieles verbindet. Darüber vergessen wir schnell, dass gerade diese Nationen in der Vergangenheit erbitterte Kriege gegeneinander geführt haben. Selbst wenn das für unsere Jugend ewig her scheint, die Wunden sind noch nicht lange verheilt. Als wir ankündigten, heiraten zu wollen, gab es in dem holländischen Teil der Familie vernehmbare Verstimmung. Die Großmutter war alles andere als begeistert, dass ihr Enkel ausgerechnet eine Deutsche zur Frau nehmen wollte. Die Familie hatte unter dem Krieg schwer gelitten. Die Kinder waren aus Amsterdam aufs Land gebracht und von ihren Eltern getrennt worden. Das war nicht vergessen. Die Tatsache, dass ich halb Engländerin bin, konnte den Familienfrieden wieder herstellen.
Es war kein Zufall, dass es uns später nach Trier verschlagen hat. In eine Region, die am Rande Deutschlands liegt, aber mitten in Europa. Wo viele Menschen in europäischen Einrichtungen arbeiten oder indirekt von ihnen leben. Wo Grenzen jeden Tag ganz selbstverständlich überquert werden, zum Arbeiten, zum Einkaufen, in der Freizeit. In der sogenannten Großregion (Saar-Lor-Lux) gibt es täglich weit über 200.000 Berufspendler. Von meinem Wohnort aus kann man mit dem Fahrrad an einem Tag vier Länder durchqueren. Wir haben grenzüberschreitende Projekte mit Luxemburg oder Frankreich wie gemeinsame Schulen, Sportanlagen, Klärwerke, Rettungsdienste. Diese Region ist so stark miteinander verbunden, auf einem Gebiet, das in der Geschichte regelmäßig ein Schlachtfeld war. Der Friedensaspekt, der mit der Europäischen Einigung verbunden ist, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir gehen viel zu leichtsinnig mit dieser großen und historischen Errungenschaft um. Ich werde jedenfalls alles tun, was in meiner Macht steht, um Europa zusammenzuhalten. Denn Europa ist unsere Zukunft.
Erschienen in: Özcan Mutlu (Hrsg.). Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Bundestag. B&S Siebenhaar Verlag, 223 Seiten, 19,80 Euro.