Rede des Parteivorsitzenden Martin Schulz anlässlich der Gedenkfeier zum 25. Todestag von Willy Brandt
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Sehr geehrter Felipe Gonzales, querido Felipe,
Liebe Familie Brandt,
Lieber Wolfgang Thierse,
Leider hat uns der Sturm heute Morgen unseren gemeinsamen Besuch am Grab von Willy Brandt am Waldfriedhof in Zehlendorf verwehrt. Dort, ruht er nun seit 25 Jahren. Wer einmal dort gewesen ist, der kennt den Fels, in den nicht mehr als sein Name eingraviert ist, der sein Grab markiert und das schlichte Beet mit roten Blumen – ich glaube es sind fleißige Lieschen – die der einzige Schmuck seiner letzten Ruhestätte sind.
Sein Grab ist in gewisser Weise so, wie er als Mensch war: nicht aufdringlich, fast zurückhaltend, in sich gekehrt – und doch zugleich anziehend und besonders.
Willy Brandt hat unsere Partei geprägt wie wahrscheinlich kein Zweiter. Er hat Deutschland verändert und in die Moderne geführt. Gleichzeitig ist er immer Mensch geblieben. Und viele hier im Raum, die Ihn gekannt haben, werden sich heute mit viel Zuneigung an „den Willy“ erinnern.
An Ihn denken wir heute: an Willy Brandt, den Arbeitersohn aus Lübeck, der sich den Nazis in den Weg stellte und ins Exil fliehen musste. Der zurückkam und unser Land in eine neue Zeit führte.
Und der als längster amtierender Parteivorsitzender der SPD unserer Partei viele Impulse gab, die noch bis heute nachschwingen. Deshalb erlauben Sie mir, als einer der Nachfolger von Willy Brandt in diesem Amt, diesen Anlass zu nutzen, um gemeinsam mit Ihnen über das politische Vermächtnis dieses großen Mannes nachzudenken.
Aber bevor wir dies tun, möchte ich mich recht herzlich bei der Willy-Brandt-Stiftung, allen Organisatorinnen und Organisatoren, auch bei den Musikerinnen und Musikern für diese wunderbare Veranstaltung bedanken.
Wir leben in einer Zeit, die nach Antworten schreit.
Wir spüren es auch hier in Berlin: Am Freitag ist ein schwerer Orkan über die Bundesrepublik gezogen, der auch hier nicht nur schwere Sachschäden verursacht hat, sondern der auch Menschen das Leben genommen hat. Uns allen sind die Bilder des Hurricanes Irma in Erinnerung, der vor ungefähr einem Monat große Teile der Karibik und Floridas verwüstete. Und wir erinnern uns an die Fluten, die Mexiko vor einem Monat erfassten. Bis Ende des Jahrhunderts könnte sich die Zahl der Todesfälle durch extreme Wetterphänomene weltweit verfünfzigfachen! Der Klimawandel hat die Welt ergriffen und es wird Zeit, dass wir radikal dagegen vorgehen.
Die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind hat, auch als eine Folge dieser klimatischen Entwicklung, in den letzten Jahren stetig zugenommen. Ende 2016 waren 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie noch nie zuvor.
Ob die Digitalisierung, die unser Leben total verändert. Ob Terrorismus, der unsere Gesellschaft bedroht. Ob nicht mehr kontrollierbare Finanzströme, eines aus den Fugen geratenen Spekulationskapitalismus. Es wird Zeit, dass wir Antworten auf solche globalen Phänomene finden. Und vor diesem Hintergrund, haben wir vor genau zwei Wochen einen neuen Bundestag gewählt. Die großen Volksparteien, die CDU und die SPD, waren die großen Verlierer. Zusammen haben wir ungefähr 14% an Wählerstimmen verloren, ungefähr genauso viel wie die AfD gewinnen konnte. Es scheint, als haben viele Menschen in Deutschland auch unserer Partei nicht mehr zugetraut, die großen Fragen, die ihr Leben betreffen, zu beantworten.
Aber mit Blick auf die AfD bleibe ich dabei: angesichts der riesigen Herausforderungen vor denen wir stehen, sind Isolation und Ausgrenzung kein Zukunftsprogramm. Die AfD ist keine Alternative für Deutschland, weil übersteigerter Nationalismus und Hetze Deutschland noch nie gutgetan haben.
Willy Brandt war ein Mensch, der früh erkannt hat wie wichtig das Internationale für das Wohle seines eigenen Volkes war.
Lieber Felipe Gonzales,
Du hast Willy Brandt einmal einen „Deutschen bis ins Mark, Europäer aus Überzeugung, und Weltbürger aus Berufung“ genannt. Genau das war er. Jemand, der sich nicht damit abfinden wollte, dass die deutsche Teilung für die Ewigkeit war. Jemand, für den der Frieden das höchste Gebot war und der überzeugt war, dass kleine Schritte zum Frieden besser sind, als keine Schritte zum Frieden. Der für Abrüstung und internationale Entspannungspolitik stand wie kein anderer. Und Dank dessen Politik wir heute hier in diesem Haus in einer wiedervereinten Stadt zusammenkommen können.
Und denke ich an unsere aktuellen Herausforderungen, an die Flüchtlingsbewegungen nach Europa, an den Klimawandel, so bin ich überzeugt, dass uns Willy gesagt hätte, dass die Lösung in einer stärkeren internationalen Kooperation liege – und dass wir uns stärker für einen internationalen Ausgleich einsetzen müssten.
„Wo Hunger herrscht, ist auf die Dauer kein Friede“, sagte er vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen.
Was für ein wahrer Satz. Und heute könnten wir daraus einen Appell an die nächste Bundesregierung ableiten, das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit nicht als Ministerium zweiter Klasse, sondern als wichtiges und zentrales Ministerium für die Zukunft unseres Landes zu betrachten.
Um die Welt so zu gestalten, dass unsere Werte und Prinzipien respektiert werden, braucht Deutschland Partner. Um eine Stärkung Europas haben sich viele deutsche Bundeskanzler verdient gemacht: Helmuth Kohl, Helmut Schmidt, sicher, aber vor allem auch Willy Brandt.
Als erster Kanzler, der die ehrliche Aufarbeitung unserer Geschichte vorantrieb, der den Muff und das Schweigen, das bis dahin über Deutschland gelegen hatte, aufbrach, formulierte er ein Bekenntnis zu Europa, das bis heute seinesgleichen sucht und – gestatten Sie mir die persönliche Bemerkung – der Leitsatz meines politischen Lebens ist.
"Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein."
Ich zitiere: „Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein. Ein guter Deutscher weiß, dass er sich einer europäischen Bestimmung nicht versagen kann. Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und den aufbauenden Kräften seiner Geschichte. Unser Europa, aus der Erfahrung von Leiden und Scheitern geboren, ist der bindende Auftrag der Vernunft.“
Willy Brandt hat den deutschen Einsatz für Europa zur Staatsraison erklärt. Und das in seiner Rede, die er 1971 hielt, kurz nachdem er den Nobelpreis empfangen hatte. Europa, das war für Brandt eine logische Konsequenz aus der deutschen Geschichte, ein bindender Auftrag für alle Zeit und eine Frage der Vernunft, da er wusste, dass Deutschland nur dauerhaft stark sein könne, wenn es Europa stärkt. Europa wurde durch Brandt zum Regierungsprogramm. Deutschland sollte ein Volk der guten Nachbarn sein – nach innen und nach außen.
"Die SPD muss die herausragende Europa-Partei in Deutschland sein."
Für uns gilt dies heute umso mehr. Angesichts der Phänomene, die ich beschrieben habe, ist doch nichts logischer, als Europa stark zu machen.
Ich bin skeptisch, ob die neue deutsche Regierung den europapolitischen Kurs von Angela Merkel der letzten 12 Jahre umkehren können wird. Ob wir aus dem Krisenmodus in einen konstruktiven und aufbauenden Modus kommen können. Ob Deutschland endlich all seine Kraft nutzt, um gemeinsam mit seinen europäischen Nachbarn unser gemeinsames Europa stark zu machen.
Ich empfinde es als meinen persönlichen Auftrag, aus der Opposition heraus die Regierung genau dazu zu drängen. Die SPD muss die herausragende Europa-Partei in Deutschland sein.
Die Frage ist allerdings, warum wir nicht als solche wahrgenommen werden. Der SPD hat es seit Willy Brandt nicht an überzeugten Europäern gemangelt – im Gegenteil. Schaue ich alleine auf die jüngste Vergangenheit, so war Frank-Walter Steinmeier sehr um Europa bemüht, Außenminister Sigmar Gabriel ebenso und der aktuelle Parteivorsitzende hat 23 Jahre lang in Brüssel und Straßburg für ein starkes Europa gekämpft.
Und doch haben wir nicht dieses Alleinstellungsmerkmal. Warum nicht?
Wir müssen für unsere Prinzipien kämpfen und nicht für feingeschliffene Positionspapiere.
Ich denke diese Frage ist Teil eines generellen Phänomens: Unsere politische Kultur hat die Kontroverse verloren. Wenn es beispielsweise um Europa geht, sind sich die meisten Parteien einig, dass ein starkes Europa im Sinne unseres Landes ist. Die Unterschiede in der Europapolitik werden als Feinheiten angesehen, obwohl sie das gerade nicht sind! Es macht nämlich einen Unterschied, ob wir in Europa als solidarischer Partner auftreten oder als fordernder Oberlehrer. Es macht einen Unterschied, ob wir Probleme gemeinsam angehen, oder ohne Absprachen unsere Partner brüskieren. Es macht einen Unterschied im Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerdumping, ob der Finanzminister von der FDP kommt oder Sozialdemokrat ist. Deshalb müssen wir die kontroverse Debatte in Deutschland wiederbeleben. Für unsere Prinzipien kämpfen und nicht für feingeschliffene Positionspapiere.
Für Werte kämpfen, auch wenn nicht alle sie teilen.
Für Werte kämpfen, auch wenn nicht alle sie teilen. Und Projekte vorschlagen, die vielleicht am Anfang keine Mehrheit finden, von denen wir aber überzeugt sind, dass sie eine Mehrheit verdienen! Die Sozialdemokratie war immer am stärksten, wenn sie es geschafft hat die anderen in Zukunftsdebatten zu stellen. Denn da sind wir am stärksten, auch gegen jeden Widerstand. Willy Brandt ist das beste Beispiel für diese Politik. Er war es, der den Mut zur kontroversen Debatte zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Er hat unser Land reformiert, in der Bildung, im Strafrecht, in der Aufarbeitung der NS-Zeit, in der Politik für Frauen und im Umgang mit der Demokratie generell.
Und zwar nicht zum Jubel der gesamten Bevölkerung; nein, oft gegen erbitterten Widerstand. „Vaterlandsverräter“, „Willy Brandt, an die Wand“ – das waren die Parolen, die ihm entgegen schlugen.
„Mehr Demokratie“, das war damals im wahrsten Sinne des Wortes, ein Wagnis. Aber Willy Brandt hatte diesen Mut und ich denke, wir sollten auch heute diesen Mut fassen, um aus der Schlafwagenpolitik herauszufinden und die Demokratie in Deutschland durch Kontroverse zu stärken!
Was passiert, wenn man versucht die Debatte um wichtige Zukunftsfragen konsequent zu verweigern, das haben wir am Wahlsonntag erlebt. Es entsteht unweigerlich ein Vakuum und in dieses Vakuum strömen die, die nicht gestalten, sondern zerstören wollen. Wahr ist aber auch, dass tiefergehende Fehler gemacht wurden. Wir – die wir den Anspruch haben eine Volkspartei zu sein – haben nicht mehr die Menschen erreicht, die wir erreichen wollten. Das hat strategische, organisatorische und strukturelle Gründe, die tief liegen und die es jetzt gilt aufzuarbeiten.
„Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer."
„Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Auch für diese schwierige Aufgabe hat Willy Brandt schon 1992 die richtigen Worte gehabt. Und schon fünf Jahre zuvor, in seiner Abschiedsrede als SPD Parteivorsitzender gab er uns mit auf den Weg:
„Eine Partei der Reformen muss immer auch zur eigenen Reform fähig sein. Die SPD als Organisation bedarf jedenfalls anhaltender Pflege und erheblicher Modernisierung. … “ „Die Sozialdemokratie muss sich als Volkspartei ständig erneuern. Nur so kann sie sich als bewegende Kraft bewähren.“
Ja, darum geht es nun für uns: um Erneuerung, um einen Neustart. Wir wollen junge Menschen ansprechen, Kulturschaffende für uns gewinnen. Wir wollen wieder eine Idee verkörpern, die mitreißt, vielleicht polarisiert und zur Diskussion anregt.
Wir wollen mit Menschen ins Gespräch kommen. Menschen mitnehmen. Wir wollen, dass wir als Partei durchlässiger werden und Talenten eine Chance geben. Vielleicht sitzt der nächste Willy Brandt gerade in Lübeck am Hafen, aber ist noch kein Juso. Oder vielleicht lebt unsere zukünftige Kanzlerkandidatin hier in Berlin, hat sich aber noch nicht für die SPD entschieden.
Wir wollen als Partei wieder einladender werden.
Wir wollen als Partei wieder einladender werden. Wir haben seit Jahresbeginn weit über 25.000 neue Mitglieder gewonnen. Das ist nicht schlecht.
Über Willys lange Amtszeit verteilt waren es hunderttausende. Dahin wollen wir zurück. Wir wollen Antworten auf unsere Zeit finden. Auf die Digitalisierung, auf den Klimawandel, auf die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen arm und reich. Wir müssen besser werden und wir müssen wieder die Herzen der Menschen erreichen.
Die SPD muss wieder eine Mitmachpartei werden. Die Sozialdemokratie muss wieder eine Bewegung sein.
Für mich ist das heute ein besonderer Tag. Wie für uns alle hier, ist Willy Brandt auch für mich persönlich eine ganz besondere Figur. Ich war 14 Jahre alt, als ich die Regierungserklärung 1969 vor dem Fernseher verfolgt habe.
Die Abstimmung über das Misstrauensvotum 1972 verfolgte ich in der Aula meiner Schule – heute würde man sagen beim Public Viewing. Wegen Willy bin ich in die SPD eingetreten und hätte mir nie träumen lassen, einmal hier zu stehen, unter seiner Büste und an seinem 25. Todestag.
Ich habe Willy Brandt drei Mal getroffen: am 24. Juli 1976, als ich zur Belohnung für die Werbung des 500. Mitglieds des Ortsvereins Würselen ein Buch mit Widmung von Willy überreicht bekam.
Und dann traf ich ihn spät, 1991 und 1992 in Parteiratssitzungen. Willy Brandt mit der SPD die Geschichte einer ganzen Epoche geprägt. Der Historiker Manfred Görtemaker hat einen entscheidenden Moment dieser Epoche – den Regierungswechsel 1969 – als „Umgründung unserer Republik bezeichnet. Die Epoche, die Willy Brandt damit einläutete, war geprägt vom Willen zu Frieden, Freiheit und Fortschritt.
Heute habe ich mir vorgenommen, mit Ihnen gemeinsam über das politische Vermächtnis dieses großen Mannes nachzudenken.
Eine halbe Stunde Redezeit ist hierfür sicherlich zu knapp bemessen.
Aber neben all den epochalen Reformen, die Willy Brandt in Deutschland eingeleitet hat, ist mir eines besonders wichtig.
Er hat der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Demokratie an entscheidenden Momenten einen Impuls gegeben. Er hat für die deutsche Demokratie Geschichte geschrieben.
Es liegt nun an uns allen, diese Errungenschaft zu bewahren und weiterzuentwickeln. Es liegt an uns, diese Geschichte weiterzuschreiben.
Vielen Dank.
(Es gilt das gesprochene Wort)