Wir haben eine schwere Wahlniederlage erlitten und das historisch schlechteste Wahlergebnis der SPD seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland eingefahren. Wir haben die vierte Wahlniederlage in Folge bei einer Bundestagswahl erlebt. Das ist bitter für die gesamte Partei. Das ist bitter für uns alle, die wir als Parteimitglieder oder Unterstützer engagiert gekämpft haben. Und es ist bitter für mich persönlich, denn ich möchte der Partei Stolz und Selbstbewusstsein zurückgeben und zusammen mit Euch dafür sorgen, dass wir endlich wieder einen sozialdemokratischen Regierungschef in Deutschland bekommen. Das hat am 24. September nicht geklappt. Für diese Niederlage trage ich als Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat die Hauptverantwortung.
Natürlich habe ich am Sonntagabend mit mir gerungen und mich gefragt, ob es nicht besser wäre zurückzutreten. Nach unzähligen Gesprächen mit Genossinnen und Genossen in Parteiführung, Fraktion und im ganzen Land, nach vielen Gesprächen, Telefonaten und Briefen von Menschen aus allen Regionen in Deutschland, bin ich aber zu der Überzeugung gelangt, dass ich zusammen mit der Partei den dringend notwendigen Neuanfang der SPD voranbringen möchte. Das will ich gemeinsam mit Andrea Nahles tun, die als neue Fraktionsvorsitzende ihre Ideen, Ziele und Erfahrungen einbringen wird.
Weder 2005, noch 2009 oder 2013 hat es eine ehrliche und tiefergehende Debatte über die Gründe der damaligen Wahlniederlagen gegeben und es sind auch keine echten Konsequenzen gezogen worden. Strukturell, organisatorisch, inhaltlich und strategisch hat sich unsere Partei seitdem nicht ausreichend weiterentwickelt. Auch in der praktischen Durchführung der Wahlkampagne 2017 haben sich alte Fehler wiederholt. Wie schon 2009 und 2013 haben wir auch dieses Mal beim Verfahren zur Bestimmung des Kanzlerkandidaten einen Weg gewählt, der uns zu wenig Zeit für die Vorbereitung der Kampagne gelassen hat. Spätestens seit Sonntag ist klar: Um wieder und dauerhaft erfolgreich sein zu können, müssen wir deutlich besser werden und zwar auf allen Ebenen.
Gerade mit Blick auf die bitteren Erfahrungen unserer europäischen Schwesterparteien muss uns allen klar sein: Es geht in den nächsten vier Jahren um nicht weniger als um die Existenz der deutschen, ja der europäischen Sozialdemokratie.
Wir leben in einer Welt, die immer schneller wird, die immer mehr zusammenwächst und sich permanent verändert. Das 21. Jahrhundert hat große Herausforderungen mit sich gebracht, denen wir uns stellen müssen:
- Wie sorgen wir dafür, dass wir fortschrittlich bleiben und die Digitalisierung nicht Arbeitsplätze gefährdet, sondern neue schafft? Wie sorgen wir dafür, dass unser Bildungssystem zukunftsorientiert ist, internationalen Vergleichen standhält und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dient?
- Wie gestalten wir eine moderne Gesellschaft, in der Frauen und Männer vollständig gleichberechtigt sind? In der alle die gleichen Chancen haben und nicht Herkunft, Name und Wohnort über die Zukunft entscheiden?
- Wie machen wir unser Land gerechter? Wie sichern wir unsere sozialen Systeme, wenn unsere Gesellschaft immer älter wird und es mehr und mehr Selbstständige gibt?
- Wie gehen wir endlich konsequent damit um, dass wir auf einem Einwanderungskontinent leben? Wie viel Zuwanderung braucht unser Land und wie sorgen wir dafür, dass Menschen, die zu uns kommen, eine faire Chance haben und eine gerechte Behandlung erfahren?
- Wie schaffen wir es, als Land gemeinsam stark zu sein? Dass nicht auf der einen Seite die Ballungszentren bis an die Grenzen der Belastung florieren, während andere Regionen abgehängt werden oder gar aussterben?
- Welche Antworten geben wir auf die zunehmende Angst, Überforderung und Verunsicherung in Teilen unserer Gesellschaft?
- Wie verteidigen wir, in unserer Tradition als Bollwerk der Demokratie, unsere Gesellschaft gegen die Rechtsextremisten?
- Wie kann Europa in unsicheren Zeiten zu mehr Frieden und Stabilität beitragen? Wie machen wir Europa zur Vorzeigeregion für die Versöhnung von Umwelt- und Klimaschutz mit wirtschaftlicher und industrieller Stärke?
Wir müssen uns als Partei diesen Fragen stellen, auch den unangenehmen. Wir werden streiten und zu gemeinsamen Positionen kommen müssen. Ein weiterer Wahlkampf, der sich diesen großen Fragen nicht stellt, ist zum Scheitern verurteilt. Deshalb geht es in den nächsten Jahren darum, Antworten zu finden. Es geht darum, eine neue Geschichte der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert zu definieren. Unser ganzer Kontinent steht vor epochalen Aufgaben und Veränderungen und es liegt an uns, diesen Wandel zu gestalten.
Wir müssen unsere Partei weiterentwickeln. Wir brauchen einen strukturellen, organisatorischen, inhaltlichen und strategischen Neuanfang. Das wird uns nur gelingen, wenn wir diesen als Partei gemeinsam gestalten. Deshalb möchte ich, dass wir unter uns in der Partei engagiert und kritisch diskutieren, darüber hinaus auch mit allen gesellschaftlichen Gruppen und den klügsten Köpfen ins Gespräch kommen und dies nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und weltweit. Es gibt überall gute Ideen und wichtige Erfahrungen, die wir sammeln können. Ich möchte einen sorgfältigen Prozess anstoßen, der über einen längeren Zeitraum sichtbar sein wird. Ich möchte zuhören und verstehen, was die Erwartungen an die SPD sind, wo wir Fehler gemacht haben und was wir tun müssen, um zu neuer Stärke zu kommen. Dieser Aufgabe werde ich meine ganze Kraft als SPD-Vorsitzender widmen.
In den kommenden Tagen und Wochen werde ich Vorschläge machen, die uns helfen sollen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Ich werde im ganzen Land unterwegs sein, um über die Ursachen unserer Wahlniederlage und die notwendigen Konsequenzen mit Euch zu sprechen. Wir werden in der ganzen Partei sehr sorgfältig analysieren, wie wir besser werden können. Die Ergebnisse dieser Diskussionen verdichten wir dann in einem ambitionierten Arbeitsprogramm, das beim Parteitag im Dezember beschlossen werden soll.
Dieser Prozess wird Zeit brauchen, weil ich entschlossen bin, ehrlich und grundlegend über die Probleme der SPD und die notwendigen Konsequenzen zu beraten, damit wir zu einem Neustart kommen, der uns wieder mehrheitsfähig macht. Eine erneuerte SPD muss den Anspruch haben, die Regierung in Deutschland anführen zu können. Spätestens beim ordentlichen Parteitag 2019 werden wir die Weichen für 2021 stellen, um bei der nächsten Wahlauseinandersetzung wieder erfolgreich zu sein.
Ich bin traurig und auch erschüttert über unser Wahlergebnis. Es ärgert mich, dass ich es als Spitzenkandidat nicht geschafft habe, die Ideenlosigkeit der Konservativen deutlich zu machen. Es treibt mich immer noch um, warum wir mit unserem guten Programm für mehr Gerechtigkeit und eine bessere Zukunft nicht zu den Menschen durchgedrungen sind. Gleichzeitig bin ich fest entschlossen, gemeinsam mit Euch unsere Partei wieder zu neuer Stärke zu bringen und möglichst schnell die Oppositionszeit hinter uns zu lassen.
Wir haben über 150 Jahre für ein besseres und gerechteres Land und für ein freies und sicheres Europa gekämpft. Mehr denn je wird die SPD in diesen Zeiten gebraucht. Gerade die über 3.000 Neumitglieder, die nach der Wahl in die SPD eingetreten sind und die über 25.000 Mitglieder, die seit Januar zu uns gekommen sind, geben mir Hoffnung, dass wir die Kraft und Zuversicht dafür finden werden. Wenn wir solidarisch zusammenhalten und schreiten Seit´ an Seit´, wird uns das gelingen.