Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil fordert angesichts der russischen Invasion in der Ukraine, die europäische Sicherheitsordnung neu zu definieren. Wir dokumentieren seine Rede beim Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Ehren von Egon Bahr, der am Freitag 100 Jahre alt geworden wäre.
Egon Bahr hat sein Leben damit verbracht, Gräben zwischen West- und Osteuropa zu überwinden. Er war der Wegbereiter der Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt. Sein Einsatz führte zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas und machte die Vision einer neuen Sicherheitsordnung in Europa, die Russland einbindet, greifbarer.
Heute wäre Egon Bahr 100 Jahre alt geworden. Es birgt schon eine gewisse Tragik, dass ausgerechnet zu diesem denkwürdigen Jubiläum seine Vision einer nachhaltigen Sicherheitsordnung in Europa in sehr weite Ferne gerückt ist. Putins brutaler Angriffskrieg auf die Ukraine hat in kurzer Zeit die europäische Sicherheitsordnung über den Haufen geworfen. Und er hat die Gewissheit in einem friedlichen Europa zu leben, die meine Generation geprägt hat – auch dank Persönlichkeiten wie Egon Bahr – zerstört.
Was wir heute erleben, sind tektonische Verschiebungen, die unsere Zukunft auf viele Jahre ganz fundamental prägen und verändern werden: die Sicherheitsordnung in Europa und darüber hinaus die Europäische Union und unsere Nachbarn, gerade im Osten.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat zurecht von einer Zeitenwende gesprochen. Wir erleben gerade eine Zäsur. Es liegt an uns, dass wir daraus die Lehren und Konsequenzen ziehen. Es lohnt sich dabei auf das Lebenswerk von Egon Bahr zu blicken. Es liegt an einer jungen Generation von Politikerinnen und Politikern, die Politik in dieser Zeitenwende mit Leben zu füllen, um Freiheit, Demokratie und Frieden in Europa langfristig zu sichern. Die Gedanken von Egon Bahr bleiben in dieser Zeit aktuell. Vieles, was gut war, muss auch in neuen Zeiten Bestandteil unseres internationalen Denkens und Handelns bleiben.
Kurzfristig müssen wir alles unternehmen, um den zerstörerischen Krieg in der Ukraine so schnell es geht zu beenden. Nichts, rein gar nichts rechtfertigt Putins völkerrechtswidrige Invasion, seinen brutalen Überfall auf ein souveränes Land. Putin glaubte auf eine schwache Ukraine, eine schwache Europäische Union, eine schwache NATO und einen schwachen „Westen“ zu treffen. Er hat sich massiv verkalkuliert.
Die Europäische Union zeigt sich so geschlossen wie lange nicht. Der sogenannte „Westen“ hat als Wertegemeinschaft wieder an Bedeutung gewonnen. Staaten von Australien über Japan und Südkorea haben sich den Sanktionen angeschlossen und stehen an der Seite der Ukraine. Die Europäische Union hat nach dem Einmarsch der russischen Armee schnell und entschlossen gehandelt und harte Sanktionen gegen Russland verabschiedet. Sie treffen die russische Wirtschaft und die Elite des Landes ins Mark.
Russland ist international isoliert. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilten 141 Staaten Russlands Krieg. Nur vier Diktaturen haben sich hinter Putin versammelt: Nordkorea, Eritrea, Syrien und Belarus.
Die NATO ist so stark wie lange nicht mehr. Auch dazu hat Putin beigetragen. Die NATO zeigt ihre Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit. Sie verstärkt ihre Präsenz an der Ostflanke. Sie ist ein Garant für Sicherheit.
Dieser Krieg lässt sich nicht militärisch gewinnen. Diese Erkenntnis wird auch Putin früher oder später erreichen. Der Glaube und die Hoffnung an ein Leben in Frieden und Freiheit sind größer als die imperialistischen Großmachtgelüste des russischen Diktators. Dieser Krieg ist der Anfang des Endes von Wladimir Putin. Bis dahin werden wir alles dafür tun, seiner Zerstörungswut Einhalt zu gebieten. Wir müssen dabei weiter einen kühlen Kopf bewahren, das ist auch klar.
Es wird keine militärische Einmischung der NATO geben. Es wird keinen Dritten Weltkrieg geben. Aber es gibt noch viele Möglichkeiten, die nicht ausgeschöpft sind an weiteren Sanktionen, um den Druck auf Putin zu erhöhen. Der Krieg in der Ukraine verändert auch unser Leben in Deutschland nachhaltig. Krieg ist wieder Gesprächsthema an unseren Küchentischen., gerade die älteren Generationen in unserem Land werden von dunkelsten Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg eingeholt. Aber auch eine junge Generation hat tatsächliche Kriegsangst. Krieg ist nicht mehr in Computerspielen oder Netflixserien, sondern sehr real. Zwei Flugstunden von Berlin entfernt findet ein brutaler Angriffskrieg statt.
Auch ich hätte mir nicht vorstellen können, dass wir im Jahr 2022 einen Angriffskrieg mitten in Europa erleben werden. Ich bin mir sicher, auch Egon Bahr hätte sich das nicht ausmalen können, als er 2015 von uns gegangen ist.
Ich glaube übrigens nach wie vor, dass es richtig war, in Dialog und Austausch mit Russland zu investieren. Es war wichtig, auch wenn die Beziehungen zu Russland zunehmend schwieriger geworden sind, dass wir darauf vertraut haben, dass internationales Recht, die Unverrückbarkeit von Grenzen und die territoriale Integrität souveräner Staaten in Europa von allen respektiert würden – festgehalten in historischen Verträgen, von denen viele Egon Bahrs Handschrift tragen. Vielen von uns haben nicht die Vorstellungskraft für einen solch zerstörerischen Angriffskrieg im 21. Jahrhundert gehabt. Diesen Weg hat ganz allein Wladimir Putin eingeschlagen. Wir müssen daraus lernen und uns fragen, welche Konsequenzen daraus gezogen werden.
Rückblickend müssen wir uns natürlich fragen, ob wir den russischen Einmarsch in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 oder die russischen Auftragsmorde in London und Berlin anders hätten bewerten müssen. Ob wir die Zeichen der Zeit anders hätten erkennen müssen. Diese Diskussion ist wichtig, weil sie auch unser künftiges Handeln bestimmen wird.
Olaf Scholz hat im Deutschen Bundestag am 27. Februar in einer denkwürdigen Rede von einer Zeitenwende gesprochen. Und er hat erste Schritte dieser Zeitenwende benannt. Mehr Geld für die Landesverteidigung. Waffenlieferungen an die Ukraine. Aber: Diese Zeitenwende ist mehr. Sie wird uns über viele Jahre beschäftigen. Als Politik, als Gesellschaft wird sie uns vieles abverlangen und viele Weichen müssen in den nächsten Jahren gestellt werden. Die europäische Sicherheitsordnung muss neu definiert werden. Viele Antworten werden wir erst in Diskussionen gefunden werden müssen.
Lassen Sie mich heute vier Thesen in den Raum stellen, worauf es bei dieser Zeitenwende ankommen wird. Es sind erste Gedanken.
These 1: Nur aus einer Position der Stärke können wir die Hand ausstrecken. Nur aus einer Position der Stärke können wir für Frieden und Menschenrechte eintreten.
Das ist das, was Egon Bahr und Willy Brandt immer verstanden haben. Annäherung und Kooperation gehen nur aus einer Position der eigenen Stärke. Diese Stärke muss auch militärisch abgebildet werden. Zu Zeiten Willy Brandts betrug der Verteidigungshaushalt deutlich über drei Prozent unserer Wirtschaftskraft. Aus dieser Position der Stärke heraus konnten in Verhandlungen mit der Sowjetunion weitreichende Verträge zur Stärkung von Sicherheit und Menschenrechten ausgehandelt werden.
Olaf Scholz hat angekündigt, den Verteidigungsetat auf mindestens zwei Prozent unserer Wirtschaftskraft anzuheben. Dieser Weg ist richtig. Es geht um gute Ausrüstung unserer Bundeswehr, nicht um Aufrüstung. Es geht um eine Ausrüstung , die die Bundeswehr in die Lage versetzt, die Bündnis- und Landesverteidigung zu gewährleisten. Wir müssen jederzeit in der Lage sein, unser Land verteidigen zu können.
Dieser Weg ist keine Abkehr sozialdemokratischer Sicherheitspolitik. Es ist eine logische Konsequenz und steht in Kontinuität zu Brandt, Bahr und auch Helmut Schmidt. Wer jetzt versucht, eine Militarisierung herbeizureden, der irrt. Ich sage deutlich: Die Zeitenwende besteht nicht in einer Militarisierung. Es geht um Entspannung, um Entwicklungspolitik, es geht um Internationales Recht. Auch um ordentlich finanzierte Entwicklungshilfe. Es geht um Institutionen, um die Stärkung der Vereinten Nationen. Durch eine Position der Stärke ergeben sich neue Räume für Dialog zur Schaffung von Frieden und zur Durchsetzung internationalen Rechts. Aber das alles erreichen wir, und das ist doch die Erkenntnis dieser Tage, aus einer Position der Stärke - und das wollen wir jetzt entschieden angehen.
These 2: Europa muss Geopolitik neu lernen.
Europa ist unsere Stärke. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist unsere Stärke. Aber ich sage auch in aller Klarheit: Es macht keinen Sinn, wenn 27 Mitgliedstaaten eigene sicherheitspolitische Strategien planen. Rüstungsprojekte müssen gemeinsam umgesetzt werden, die Armeen müssen stärker integriert werden. Wir müssen außenpolitisch mit einer Stimme sprechen, aber auch die Resilienz nach innen stärken. Das soziale Europa ist ein Garant dafür, dass wir außen- und sicherheitspolitisch erfolgreich sein können. Das Ziel einer starken Gesellschaft gehört zu einem sozialdemokratischen Begriff von Sicherheit dazu. Europa muss souveräner werden und das sehr, sehr schnell. Das sage ich auch vor dem Hintergrund, dass wir gerade uns auf die amerikanische Regierung verlassen können.
Das transatlantische Verhältnis ist so stark wie lange nicht. Aber wir wissen nicht, was 2024 bei den Wahlen in den USA passiert. Und deswegen ist klar, dass Europa jetzt endlich handeln muss: Wegkommen von diesen Trippelschritten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Die Einigkeit der Europäischen Union, das Voranbringen der Europäischen Union ist das wichtigste Projekt meiner politischen Generation.
Putins Krieg muss ein Weckruf dafür sein, dass wir ein Momentum, das jetzt gerade da ist, endlich konsequent nutzen. Da geht es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es geht um den Schutz vor autoritären Bestrebungen. Es geht um funktionierende Demokratien. Es geht um Werte, die wir verteidigen. Ich sage hier auch ganz klar, dass wir dafür auch die Beitrittsverhandlungen nutzen müssen. Es gibt Staaten, die sich von Putin bedroht fühlen. Die Ukraine wird konkret angegriffen, andere Länder fühlen sich bedroht und suchen die Nähe zur Europäischen Union. Genau diese Nähe, die Sicherheit, die müssen wir ihnen geben. Deswegen ist es wichtig, dass die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien, mit Albanien zeitnah gestartet werden.
Und ja, ich betone, dass auch die Ukraine in die Europäische Union gehört. Das sind Europäer. Und das Signal, das wir senden müssen, ist: Wir wollen euch auch in der Europäischen Union haben.
These 3: Wir müssen unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von autoritären Staaten drastisch reduzieren.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges haben wir im Westen geglaubt, der Welt stehe eine Demokratisierungswelle bevor. Autoritäre Staaten würden sich durch die stärkere Annäherung an liberale Demokratien politisch und wirtschaftlich öffnen. Wandel durch Handel war für viele das Gebot der Stunde. Dieses Konzept, das müssen wir heute anerkennen, ist gescheitert. Russland ist in den vergangenen Jahren immer autoritärer geworden, trotz enger wirtschaftlicher Verflechtungen mit Europa.
Diese Abhängigkeit, die wir zugelassen haben, führt heute zu steigenden Energiepreisen und großer Unsicherheit in der Wirtschaft und Bevölkerung. Das gefährdet auch den sozialen Frieden bei uns. Energiepolitik ist nicht nur Teil einer ökologischen und ökonomischen Transformation, sondern auch Teil einer sicherheitspolitischen Transformation. Ich bin froh, dass wir im Koalitionsvertrag dazu vieles festgehalten haben.
Diese Transformation muss sogar noch beschleunigt weitergehen, damit wir nicht mehr abhängig sind von russischem Gas und russischen Öl.
Aber wir müssen auch Konsequenzen für unseren Umgang mit anderen autoritären Regimen daraus ziehen. Ich will hier ausdrücklich noch mal China nennen. Ich möchte nicht, dass wir in fünf oder zehn Jahren festhalten, was wir auf der einen Seite energiepolitisch versäumt haben, haben wir auf der anderen Seite Technologiepolitik oder im Bereich der Medizin zugelassen. Es gilt jetzt, Konsequenzen auch für unseren Umgang mit China zu ziehen und ganz klar zu sagen: Wir wollen nicht abhängig sein von autoritären Regimen!
These 4: Außenpolitik darf kein Projekt der politischen Eliten sein. Außenpolitik beeinflusst das Alltagsleben aller Menschen.
Ich möchte, dass Außenpolitik kein Projekt der politischen Eliten ist. Ich möchte, dass Außenpolitik ganz selbstverständlich in unserem Lebensalltag integriert ist und dort diskutiert wird. Wir alle spüren die Auswirkungen von Außenpolitik jeden Tag bei Gesprächen am Küchentisch. An der Tankstelle, bei Heizkosten. In Betrieben, die sich um ihre Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt Gedanken machen. Bei Preisen und Angeboten im Supermarkt. Oder, wenn wir sehen, wie abhängig wir von globalen Lieferketten sind.
Trotzdem wird Außenpolitik noch viel zu sehr in exklusiven Kreisen mit exklusiver Sprache diskutiert. Es geht darum, dass wir als Politik, auch als Friedrich-Ebert-Stiftung, die Verantwortung wahrnehmen, dass wir mitten in der Gesellschaft Außen- und Sicherheitspolitik diskutieren. Das ist komplex. Die globalisierte Welt ist komplex. Aber es geht darum, dass wir Außenpolitik erklären. Dass wir Zusammenhänge aufzeigen. Dass wir begründen, warum internationale Organisationen so wichtig sind. Warum der Ausbau der Erneuerbaren Energien auch ein sicherheits- und außenpolitisches Projekt ist. Dass wir deutlich machen, warum das der Industrie und der Wirtschaft in Deutschland langfristig hilft, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen auch in Konkurrenz zu autoritären Regimen. Warum es wichtig ist für gute Löhne und Stabilität in Deutschland, wenn wir uns in Europa, wenn wir uns im westlichen Bündnis engagieren.
Alles das ist wichtig und muss über die exklusiven Kreise der Außenpolitik hinaus diskutiert werden. Es geht darum, dass die Außenpolitik nicht nur in den Fakten, sondern auch im Verstehen, auch in der Debatte in den Lebensalltag der Menschen eindringt und ganz konkret beschrieben wird, was dort passiert.
Auch das, sehr geehrte Damen und Herren, ist im Geist und im Interesse von Egon Bahr. Ich habe ihn nur zwei, drei Mal erleben dürfen. Aber er hat es immer geschafft, die Außen- und Sicherheitspolitik so zu erklären, dass viele Menschen sie verstanden haben. Das ist die große Aufgabe, die wir leisten müssen.
Es kommt jetzt auf vieles an in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren. Ich habe zu Anfang der Rede gesagt, dass die Auswirkungen dieses Krieges Europa verändern, unser Leben verändern werden. Die nächsten 10 bis 15 Jahre sind vom 24. Februar 2022 geprägt.
Jemand wie Egon Bahr fehlt heute. Ich bin mir sicher, er hätte erste Konsequenzen gezogen, erste Hinweise gegeben, erste Lehren auch aus diesem Krieg gezogen und hätte vieles davon vorgetragen, was uns zum Nachdenken gebracht hätte. Es liegt jetzt an Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die Egon Bahr folgen, diese Zeitenwende mit Leben zu füllen. Wohlstand, Freiheit, Frieden, Demokratie in Europa für die nächsten Generationen zu sichern. Frieden ist in der Tat eine Herausforderung. Und ich betone noch einmal: Vieles, was richtig war, bleibt richtig. So schwer das in diesen Zeiten erscheinen mag.
Ich bin mir sicher, der Weg in die Zukunft führt über Brücken, die wir gehen sollten. Nicht durch Gräben und erst recht nicht durch Schützengräben. Dieses Ziel dürfen wir auch in schweren Zeiten niemals aus den Augen verlieren. Und wo ich ganz klar den Ansporn habe, dass es die Sozialdemokratie ist, die diese Zeitenwende durchdenkt, die sie beschreibt und die am Ende auch Lösungen bietet, wie wir aus einer Situation, die in diesen schwarzen Tagen verfahren scheint, wie wir aus einer solchen Situation rauskommen.
Ich bin mir sicher, am Ende wird es gute Ideen geben. Und deswegen noch einmal ein großer Dank von mir an alle, die die heutige Veranstaltung organisiert haben, die dazu beitragen, dass wir mit diesem Symposium Egon Bahr gedenken, ihm gebührend bedenken. Aber ich betone auch: Es liegt eine große Aufgabe, eine große Verantwortung vor uns. Herzlichen Dank.