Hartz IV abschaffen, ein neues Bürgergeld einführen, Sanktionen streichen und das Arbeitslosengeld verlängern: Im RND-Interview verrät Andrea Nahles erstmals, wie ihr Konzept für den „Sozialstaat 2025“ aussieht.
RND: Frau Nahles, ist der deutsche Sozialstaat ein Sanierungsfall?
Andrea Nahles: Nein. Er funktioniert eigentlich sehr gut. Wir haben Rechtsansprüche, wir haben eine Grundsicherung. Dennoch hat es in den vergangenen Jahren einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung gegeben. Nicht unbedingt, weil die Leistungen schlecht gewesen wären, sondern weil die Kultur nicht gestimmt hat, in der diese Leistungen bewilligt worden sind. Dieses verlorengegangene Vertrauen will die SPD wieder herstellen.
Dazu haben Sie im Herbst ein Konzept für den Sozialstaat 2025 angekündigt, das kommende Woche beschlossen werden soll. Nennen Sie doch mal die drei wichtigsten Schlagworte.
Solidarität, Zusammenhalt, Menschlichkeit. In einer neuen Zeit brauchen wir nicht weniger als einen neuen Ansatz für unseren Sozialstaat, der zudem als leistungsgerecht und transparent empfunden wird.
Fangen wir mit der Transparenz an. Wo mangelt es da?
In Wahrheit sind unsere Sozialsysteme leider ziemlich intransparent – vor allem für die Betroffenen. Die nehmen den Sozialstaat als Burg wahr, über deren Mauer sie erst mal klettern müssen. Wir wollen, dass der Sozialstaat wieder als Partner der Menschen auftritt – nicht als Kontrolleur oder Bevormunder. Und der Sozialstaat muss verständlich sein. Ein schwarzes Bürokratie-Loch führt nur zu Unsicherheiten und Ängsten. Der Sozialstaat braucht einen Kulturwandel.
Wie wollen sie den erreichen?
Wir müssen weg vom Prinzip der Zuständigkeiten und hin zu einer modernen Begleitung von Menschen. Das heißt, dass Betroffene sich künftig nur noch an eine einzige Stelle wenden müssen, wenn sie staatliche Leistungen benötigen.
Sie wollen eine neue Superbehörde?
Auf keinen Fall. Wir machen das mit bestehenden Behörden. Wer etwa arbeitslos wird, meldet sich bei der Arbeitsagentur. Der dortige Ansprechpartner ist dann für ihn verantwortlich und übernimmt die Funktion eines Lotsen. Er muss den Betroffenen durch die unterschiedlichen Angebote des Sozialstaats führen und mit anderen Behörden wichtige Fragen klären, zum Beispiel, ob auch ein Wohngeldanspruch besteht. Mit dem Heiße-Kartoffel-Spiel, bei dem Menschen von Behörde zu Behörde geschickt werden, wäre dann Schluss.
Ihr erstes Stichwort lautete Solidarität. Was verbirgt sich dahinter?
Wir lassen Hartz IV hinter uns. Oder das Arbeitslosengeld II, wie es korrekt heißt. Stattdessen wollen wir eine neue Grundsicherung einführen, die wir Bürgergeld nennen. Damit korrigieren wir die Sichtweise, die wir vor 16 Jahren eingenommen haben, als noch Massenarbeitslosigkeit herrschte. Damals haben unsere Leute ein System aufgebaut, das vor allem auf die Vermeidung von Missbrauch ausgerichtet war und in dem Druck, Misstrauen und Kontrolle eine viel zu große Rolle spielten. Die Folge ist, dass sich Bezieher von Sozialleistungen bis heute viel zu oft als Bittsteller fühlen, obwohl sie einen Rechtsanspruch auf die Leistungen haben. Mit der Einführung des Bürgergeldes stellen wir das System und den Geist dahinter wieder vom Kopf auf die Füße.
Das heißt, Sie schaffen Sanktionen für kooperationsunwillige Leistungsbezieher ab?
Zum Teil. Unsinnige Sanktionen müssen weg. Wenn Sanktionen nichts nützen, sondern nur neue Probleme schaffen, sind sie unsinnig. Das gilt für die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige, die nur dazu führen, dass der Staat den Kontakt zu diesen Menschen komplett verliert. Sanktionen dürfen auch nie zu 100-Prozent-Streichungen von finanziellen Mitteln führen, die Kosten für Wohnraum etwa sollte der Staat garantieren. Sanktionen die Obdachlosigkeit zur Folge haben, werden wir abschaffen.
Komplettverweigerern droht weiterhin ein Sanktionsregime?
Natürlich wird es Mitwirkungspflichten geben. Wenn Bürger und Staat sich begegnen, gibt es Rechte und Pflichten auf beiden Seiten. Bonussysteme, Anreize und Ermutigungen sind uns wichtiger als Sanktionen. Bei harten Brocken aber muss das Amt die Möglichkeit haben, die Zügel anzuziehen. Das Grundprinzip des Förderns und Forderns bleibt erhalten – aber die Gewichtung verschiebt sich vom Fordern zum Fördern.
Wollen Sie auch an die Regelsätze der Grundsicherung erhöhen?
Nein, die Höhe der Regelsätze bleibt. Wir haben auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die für wenig Geld jeden Tag zur Arbeit gehen. Wenn wir denen das Gefühl geben, dass sich ihr Einsatz finanziell nicht mehr lohnt, zerstören wir jede Motivation.
Mehr Geld gibt es für Leistungsempfänger also nicht?
Doch, zum Beispiel über ein Bonussystem für Weiterbildung und auch bei speziellem Bedarf. Wir haben festgestellt, dass Menschen, die lange von Grundsicherung leben, irgendwann die Substanz aufgezehrt haben. Wenn die plötzlich die Waschmaschine kaputt geht und gleichzeitig die alte Winterjacke aufgetragen ist, brauchen wir auch einmalige Hilfen. Bislang gibt es dafür Darlehen. Das Bürgergeld wird für diese Härtefälle eigene Regelungen vorsehen.
Auch Leistungsgerechtigkeit war ein Stichwort. Was verstehen Sie darunter?
Es war der große Fehler, dass bei den Hartz-Reformen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verletzt wurde. Menschen, die 30 oder 40 Jahre gearbeitet haben, werden nach einem Jahr genauso behandelt, wie Menschen, die wenig oder gar nicht gearbeitet haben.
Wie wollen Sie das korrigieren?
Wer bisher aus dem Bezug von Arbeitslosengeld I fällt, bekommt sofort die volle Härte der Grundsicherung zu spüren: von der Anrechnung seines Vermögens bis hin zu der Frage, ob seine Wohnung womöglich ein paar Quadratmeter zu groß ist. Mit dem Bürgergeld wollen wir deshalb eine zweijährige Übergangsphase einführen. Da soll zum Beispiel die Angemessenheit der Wohnung grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden. Die Betroffenen brauchen ihre Kraft, einen neuen Job zu finden, nicht eine neue Wohnung. In dieser Zeit sollen die Menschen in ihren Wohnungen bleiben können und von diesbezüglichen Sanktionen verschont bleiben.
Und nach zwei Jahren heißt es dann doch: zehn Quadratmeter zu viel – umziehen bitte?
Nein, das ist ja auch bürokratischer Irrsinn. Da bekommen die Leute Geld vom Regelsatz abgezogen, weil ihre Wohnung etwas zu groß ist, und dann müssen sie für das tägliche Brot zur Tafel rennen. Damit muss Schluss sein. Wir wollen aber, dass die Leute dann schon nicht mehr auf Hilfe angewiesen sind, darum geht es! Wenn es dennoch der Fall ist werden wir auch dafür sinnvolle Regeln finden, der Perspektivwechsel den wir brauchen gilt für alle Bereiche. Niemand soll seine vier Wände verlassen müssen.
Bleibt das Problem des schnellen Absturzes vom Arbeitslosengeld I in die Grundsicherung. Da haben Sie bislang nur das Arbeitslosengeld Q im Angebot...
Das ist ein sehr gutes Angebot, das wir unbedingt einführen möchten. Wer arbeitslos ist und sich weiterbildet bekommt für eine bestimmte Zeit der Qualifizierung eine Verlängerung seines Arbeitslosengeldes I, die wir Arbeitslosengeld Q nennen. Außerdem führen wir einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung für alle ein, die länger als drei Monate arbeitslos sind. Das kann eine Kurzfristqualifizierung wie ein Gabelstaplerführerschein sein, aber auch eine richtige Umschulung. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld I bleibt erhalten. Im besten Fall wird er aber gar nicht benötigt – weil die Qualifizierung zu einem neuen Arbeitsplatz geführt hat.
Und was ist mit älteren Beschäftigten, bei denen sich die Umschulung nicht mehr lohnt?
Ab einem Alter von 50 Jahren wollen wir die Beitragszahlerjahre noch stärker anerkennen als heute. Wer 58 Jahre alt ist, kann heute 24 Monate lang Arbeitslosengeld I beziehen. Wir wollen den Bezugszeitraum auf bis zu 33 Monate verlängern.
Zusammen mit ihren zwei Schonungsjahren beim Bürgergeld reden wir dann über fast 5 Jahre, die ältere Beschäftigte ohne Druck vom Amt überbrücken könnten. Lösen Sie damit nicht sofort eine neue Frühverrentungswelle aus?
Entscheidend ist: Der Staat als Partner sorgt 5 Jahre lang für Halt und Perspektive – vom Arbeitslosengeld I über Qualifizierungsangebote bis zur Übergangsphase beim Bürgergeld. Und nein: eine Frühverrentungswelle schließe ich aus, das werden wir sicherstellen. Zum Beispiel indem Abfindungen voll angerechnet werden. Wir haben aber auch eine ganz andere Situation auf dem Arbeitsmarkt: Arbeitskräfte werden überall gesucht, die Zeit der Frühverrentung ist vorbei.
Was tun Sie für Geringverdiener, die ihr Gehalt staatlich aufstocken lassen müssen?
Wir wollen, dass die sogenannten Aufstocker nicht mehr vom Jobcenter betreut werden, sondern in die Zuständigkeit der Arbeitsagentur wechseln. Da können sie für ihren Bedarf besser unterstützt werden.
Wollen Sie dieses Reformpaket noch in dieser Regierungsperiode angehen oder ist das Munition für den Wahlkampf?
Ich will mit CDU und CSU ausloten, welche Vorschläge schnell Regierungshandeln werden können. Bei einigen Punkten bin ich optimistisch, etwa beim Wechsel der Aufstocker in den Zuständigkeitsbereich der Arbeitsagentur. Andere Dinge werden mit der Union schwer, ich kenne die ja schon eine Weile.
Ihre schönen Ideen werden also gar nicht praktische Politik?
Moment! Wir werden das jetzt für die SPD beschließen. Und wenn man Dinge beharrlich verfolgt und gut verhandelt, kann man sie erreichen. Manches geht früher, manches dauert. Was wir nicht jetzt schaffen, bieten wir für die nächste Koalition an, wie immer die aussehen mag.
Was würden Ihre Reformen den Steuerzahler kosten?
Viel weniger als Sie denken. Unser Ziel ist es ja, die Menschen schneller als bisher aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen. Immer wenn das gelingt, ist das auch für den Steuerzahler gut. Die Qualifizierungsmaßnahmen und der längere Bezug von Arbeitslosengeld I verursachen natürlich Kosten, aber die werden von der Arbeitslosenversicherung finanziert. Deren Kassen sind voll, das Geld ist da. Der Umbau des Hartz-IV-Systems in ein Bürgergeld kostet nicht viel. Das Ganze wird sicher nicht am Geld scheitern.
Die SPD leidet seit 16 Jahren unter den Hartz-Reformen. Glauben, Sie, dass die Partei mit dem neuen Sozialstaatskonzept ihr Trauma überwindet und zurück zu alter Stärke finden kann?
Wichtig ist, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland merken, dass wir für sie da sind, dass die SPD für ihre Themen brennt. Sonst tut das nämlich niemand.
Sie reparieren nun Schäden, die nach Meinung Vieler in der SPD frühere Partei-Vorsitzende wie Gerhard Schröder oder Sigmar Gabriel angerichtet haben. Wie sehr wurmt es Sie, dass die Herren in Interviews schlecht über Sie reden, während Sie deren Scherben zusammenfegen?
Mir ist wichtig, dass wir in der Sache vorankommen.
Gerhard Schröder hat Ihnen die Kompetenz abgesprochen, als Kanzlerkandidatin in eine Wahl zu gehen. Trauen Sie sich eine Kanzlerkandidatur zu?
Aber sicher! Wenn ich mir eine Kanzlerkandidatur nicht zutrauen würde, hätte ich mich niemals um das Amt der SPD-Vorsitzenden beworben. Aber die Entscheidung darüber steht jetzt nicht an.
Welchen Ihrer Vorgänger würden Sie lieber auf eine einsame Insel ohne Internet und Telefon schicken: Sigmar Gabriel oder Gerhard Schröder?
Keinen von beiden. Das wäre garstig.
Von Andreas Niesmann und Tobias Peter/RND